Ruta de la Lana (Teil 1): von Alicante nach Cuenca (331 km)

Vorher

Die Ruta de la Lana (der Weg der Wolle) ist einer der unbekannteren Jakobswege. Vermutlich hätte ich selbst nie von ihm erfahren, wenn ich nicht zufällig seinen Verlauf gekreuzt hätte, ja tatsächlich bereits einige Kilometer auf ihm gelaufen bin. Das war auf dem Camino de levante, zwischen Almansa und Alpera. Warum habe ich mir nun diesen Weg ausgesucht? Das weiß ich so richtig auch nicht, es war wohl auch ein bisschen Zufall oder Eingebung. In meiner Küche hängt bereits erwähnte Spanienkarte, in der sämtliche Caminos eingezeichnet sind, und da ist er mir irgendwie ins Auge gefallen. Außerdem beginnt er in Alicante, einer mir bislang nicht bekannten Stadt direkt am Meer, was Badetage zu Reisebeginn verspricht.

 

Die Planung des Weges erforderte diesmal besonders viel Hingabe. Es gibt bislang keinen Reiseführer, an dem ich mich orientieren könnte und der mir sagt: übernachte hier und nimm ausreichend Wasser mit, denn die nächsten 20 km findest du keine Einkehrmöglichkeiten. Was es allerdings gibt, ist die App "buen camino", die auch für viele Neben-Caminos ausführliche Streckenverläufe inkl. Kilometerangaben, Höhenprofile und Nennung von Übernachtungsmöglichkeiten bereithält. Meine Vorbereitung sah also wie folgt aus:

1. Etappen von Dorf zu Dorf in eine Excel übertragen (so weit wie immer),

2. auf Googlemaps prüfen, in welchem Dorf es Pensionen gibt,

3. Bilder der betreffenden Orte anschauen um zu checken, wo es sich evtl. lohnt, einen Stopp einzulegen,

4. Etappen sinnvoll zusammenstellen,

5. die Einwohnerzahl der Orte raussuchen, ich will schließlich in der Zivilisation bleiben,

6. Hotelreservierungen soweit wie möglich vornehmen.

 

Meine Wanderung wird nach zwei Strandtagen in Alicante beginnen und mich über die bereits bereisten Dörfchen Almensa und Alpera nach Alcala de Jucár führen, wo ich den obligatorischen freien Tag einlege. bevor ich weiterlaufe bis nach Cuenca, wo mein Camino 2024 nach 320 km endet. Die Ruta de la Lana geht dann noch ca. 350 km weiter bis nach Burgos, wo sie auf den Camino francés mündet. Das Stück mache ich dann vielleicht beim nächsten Mal. 

 

Nun habe ich meine Planung weitgehend abgeschlossen, Flüge sind gebucht, Zugfahrt auch. Von mir aus kann es losgehen.

 

3.10.2024
München - Barcelona - Alicante

München: Während ich mit der S-Bahn zum Flughafen fahre, denke ich mir: in einem Monat wird dies meine tägliche Fahrt in die Arbeit sein. Nach fast 18 Jahren bei der Allianz habe ich nämlich beschlossen, meinem Leben noch mal eine neue Richtung zu geben und werde bald als Passenger Service Professional der Lufthansa am Flughafen München arbeiten. Meine bisherige Arbeit macht mir schon lange, sehr lange keinen Spaß mehr. Ich hangele mich von Wochenende zu Wochenende, von Urlaub zu Urlaub und habe schon angefangen mich darauf zu freuen, irgendwann 67 zu werden und in Rente zu gehen. Aber das kann ja kaum das Ziel sein. Meine Mutter ist mit 61 Jahren an Krebs gestorben. Was, wenn ich vor dem 67ten auch so eine Diagnose bekomme und es dann bereue, nie den Mut gehabt zu haben, mir noch mal etwas Neues zu suchen? Ich habe mal einen Artikel gelesen über Menschen, die mit Ende 40, Anfang 50 noch mal ganz neu anfangen. In Erinnerung geblieben ist mir der Bankberater, der nach 30 Jahren bei der Bank eine Ausbildung zum Erzieher begonnen hat. Nun bin ich in dem Alter für diesen Schritt. Das Leben ist zu kurz für einen Job, der einem keinen Spaß macht. Also springe ich in das kalte Wasser und fange bei der Lufthansa an. 

 

Es gibt im Wesentlichen zwei Reaktionen, wenn ich meinen Bekannten von diesem Schritt erzähle. Die erste, häufigste: „WAS??? Und verdienst du da dasselbe?“ Nein, tue ich nicht, aber Geld ist nicht alles. (Eine Untervariante ist: „WAS??? Musst du dann Koffer auf’s Band stellen?“) Die zweite, deutlich seltenere Reaktion ist: „GEIL!!!“, oft begleitet von „eigentlich macht mir mein Job auch keinen Spaß mehr.“ Mit am meisten in Erinnerung geblieben ist mir die Aussage meiner lieben Kollegin Helga, die sagte, es hätte ihr für mich leid getan, wenn ich nicht den Entschluss gefasst hätte zu gehen.

 

Mein Flug wird aufgerufen. Ich lausche und lerne, bald mache ich solche Durchsagen. Ich freue mich schon sehr darauf! 

 

Barcelona: So sollte mein aller letzter Tag auch sein: in der Sonne liegend, nach oben schauend, während die Wolken vorbei ziehen, nach einem langen Sommer und einem warmen Frühling, bevor es wieder kälter wird, der Regen kommt und es wieder um vier Uhr dunkel ist, dazu das zweite Glas Roséwein neben mir. Ich liebe es, im Garten von Barcelonas Flughafen abzuhängen. Nur der Lärm der startenden Flugzeuge stört etwas. Wann gibt es die mit E-Antrieb?

 

Alicante: mit anderthalbstündiger Verspätung erreiche ich Alicante. Da die ursprünglich vorgesehene Crew die zulässige Arbeitszeit überschritten hatte, musste eine Ersatzcrew beschafft werden, und das hat eben gedauert. Ich überfliege den Camino de Levante, erkenne unter mir La Font de la Figuera und weiter hinten Almansa, das ich kommenden Mittwoch erneut erreiche. Wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: was, wenn ich meine Pläne einfach über den Haufen werfe und stattdessen dort weiterwandere, wo ich vor zwei Jahren schon langgelaufen bin? Am Ende werde ich das aber doch nicht machen, sondern brav die Ruta de la lana entlang wandern, die ich ab sofort nur noch lana nenne, wenn ich mich auf sie beziehe. Lana del Rey, die Wolle des Königs…

 

Der Airport-Shuttle bringt mich bis fast vor‘s Hotel. Mein Zimmer ist hübsch, aber das Bad ist winzig. Man hatte mich schon per Mail vorgewarnt und darauf hingewiesen, dass ich ein Upgrade in Erwägung ziehen möge, sollte mir Platz wichtig sein. Da das Zimmer auch so schon teuer genug ist, habe ich darauf verzichtet. Mein Hintern ist nun wirklich nicht breit, aber wenn sich Dusche mit fest installierter Glaswand und Toilette einen halben Quadratmeter teilen, bringt auch mich das an die Grenzen des körperlich Machbaren. Das Waschbecken wurde schon vorsichtshalber ausgelagert und befindet sich neben der Balkontür. Immerhin, den habe ich, und es sind sogar Wäscheleinen angebracht. Um mich schon mal dran zu gewöhnen, wasche ich heute Getragenes und es trocknet über Nacht. Ich vermisse sommerliche Temperaturen in München…

 

Die Rezeptionistin gibt mir verschiedene Vorschläge fürs Abendessen. Ich entscheide mich für eine naheliegende, nicht allzu touristisch anmutende Tapas-Bar, die laut googlemaps immerhin auf 4,2 Sterne kommt, bestelle Pulpo de la casa, was mit Kartoffeln und einem würzigen Schmelzkäse serviert wird. Derart gesättigt rolle ich ins Hotel, mache noch einen Abstecher in der Rooftop-Bar und gegen Mitternacht schlafe ich dann endlich ein. War ein langer Tag heute.

4.10.2024
Alicante

Trotz kurzer Nacht und langem Vortag wache ich um halb sieben auf. Frühstück gibt es erst in einer Stunde, das Castillo macht sogar erst um zehn auf. Gegen neun starte ich dennoch meine Tour, zunächst durch das Altstadtviertel Barrio de Santa Cruz, anschließend geht es bergauf in Richtung Castillo de Santa Bárbara, das immerhin auf einer Höhe von 166 Metern thront. Es ist noch einigermaßen ruhig hier oben, hat ja auch eben erst geöffnet. Eintritt wird nicht kassiert, was mir sehr entgegen kommt, da man sich dadurch auch nicht verpflichtet fühlt, jedes Kämmerlein zu begutachten, sondern einfach rumlatschen und wenn man keine Lust mehr hat ohne schlechtes Gewissen und dem Gefühl, etwas verpasst zu haben, wieder gehen kann. Die Aussicht ist toll, wie meistens bei so exponierten Orten, aber man hat auch bald alles gesehen, also beginne ich mit dem Abstieg. Zwischenzeitlich ist es auch sehr voll geworden. Mit der Ruhe ist es dahin.

 

Unten angekommen schlendere ich noch ein bisschen durch die Altstadt, durch das Stadtzentrum, besichtige die Kathedrale, die hier Cocatedral heißt, als gäbe es noch eine größere Schwester - falls es die gibt, versteckt sie sich gut -, entdecke die Calle de las Setas (die mit den Pilzen) sowie ein vegetarisches Restaurant, in dem ich vorzüglich esse. Nach all dem Sightseeing ist es Zeit für Siesta, schließlich will ich heute Abend noch mal um die Häuser ziehen und die gay Bars austesten.

5.10.2024
Alicante 

Bin ich verkatert heute… Zur Einstimmung auf den gestrigen Abend besuche ich - weil naheliegend - wieder die Rooftop-Bar meines Hotels und lasse es mit Roséwein gewohnt ruhig angehen. Um zehn macht ein Schuppen auf und hat eine anziehende Mottoparty auf dem Programm, die mein Interesse weckt. Ich nehme das Ende vorweg und lasse den Mittelteil ganz aus: als die Bar um halb vier schließt, werde ich mit noch ein paar anderen Gästen rausgefegt. Heute morgen dröhnt mir der Schädel und es ist nur der im Nebenzimmer lärmenden Reinigungskraft zu verdanken, dass ich um zehn wach werde und als letzter Gast noch das Frühstücksbüffet plündern kann.

 

Nach einem anschließenden Nickerchen schaffe ich es endlich, mich in Bewegung zu setzen und zum Strand zu gehen, der nicht mal zehn Minuten von meinem Hotel entfernt ist. Dort liege ich den restlichen Tag faul in der Sonne, denn ich spare mir die (weiteren) neun Euro für einen Sonnenschirm, lese Spiegel, faulenze und bade und schaue den Leuten beim Faulenzen und Baden zu. Bevor es dunkel wird schaffe ich es sogar noch zur Terrasse im 26. Stock des Hotels Gran Sol, die ich gestern von meiner Rooftop-Bar aus entdeckt habe und gehe anschließend indisch essen. Die spanische Küche mit ihren zahllosen Variationen von Schweinefleisch wird mich erst morgen wieder beglücken.

 

Auf dem Heimweg bleibe ich noch über eine halbe Stunde am Rathausplatz stehen, denn da ist große Bühne aufgebaut, ein Laienorchester spielt und eine ausgebildete Sängerin singt dazu allerlei Musical- und Filmmelodien. Hübsch! Ich drehe noch eine Runde um das Hafengelände und gehe zurück ins Hotel. Nebenan ist eine Drag-Bar. Ich habe ja nicht übel Lust, habe für heute allerdings dem Alkohol entsagt. Morgen muss ich früh raus und fit sein!

6.10.2024
Alicante - Novelda (30,8 km)

Nach dem Frühstück geht es gegen halb zehn los. Der Weg raus aus der Stadt ist nie besonders angenehm. Man läuft unbequem kilometerweit über Asphalt und muss sich durch die Industriegebiete mühen, bevor es nett wird. Das ist diesmal auch nicht anders. Tatsächlich erweckt die Strecke den Eindruck, als führe der Weg direkt an der inoffiziellen Müllhalde von Alicante vorbei. Überall liegen ausrangierte Möbelstücke am Straßenrand, der Fußweg ist nicht durchgängig begehbar. Auch eine dicke tote Katze liegt da. Ich versuche nicht hinzuschauen, was nur teilweise gelingt. 

 

Hat man erstmal den Friedhof erreicht, geht es dann aber tatsächlich raus aus der Stadt. Ich entdecke sogar die ersten Pfeile! Damit hatte ich nicht gerechnet. Fluch und Segen liegen manchmal dicht beieinander, denn bereits nach wenigen Kilometern muss ich mich entscheiden, ob ich der Streckenführung meiner App folgen will, die mich nach links vorbei am vor mir auftürmenden Berg führen will, oder den Pfeilen, die geradeaus zeigen. Ich entscheide mich für die Pfeile. Manchmal kommt es zu Änderungen der Streckenführung, weil alte Wege nicht mehr begehbar sind, so wie damals hinter Toledo. Daher fühle ich mich sicherer mit den Pfeilen.

 

Ich laufe nun also quasi hinter dem Berg herum, was nach meinem Dafürhalten keinen großen Unterschied macht. Blöd nur, wenn man einen Abzweig übersieht und irgendwann feststellt, es kommen keine Pfeile mehr. Dank GPS finde ich irgendwann dann aber doch wieder auf meinen ursprünglichen Weg, den mir die App anzeigt, zurück. Bis dahin sind bestimmt drei Stunden vergangen.

 

Es ist mittlerweile brütend heiß. Für Alicante sind Temperaturen bis 32 Grad im Schatten angesagt. Schatten gibt es hier allerdings keinen. Stattdessen führt mich mein Weg nun rein in die Hügel, von denen ich gehofft hatte, sie nicht durchqueren zu müssen. Weit oben sehe ich ein kleines weißes Gebäude. Ich bete inständig, da nicht hoch zu müssen. Aber der Camino gibt dir nicht immer, was du willst. Ich bin noch nicht im Flow, der Anstieg ist wirklich steil (mindestens 40 Prozent, wenn nicht sogar 70!) und mir geht das Wasser aus. Mit 3,5 Litern dachte ich eigentlich ausreichend mitgenommen zu haben. Aber da wusste ich noch nicht, dass ich ab Kilometer 18 bei der größten Mittagshitze die umliegenden Hügel erklimmen muss. Ich gehe 25 Meter hoch und brauche eine Pause. Das Unterfangen erinnert mich an den Aufstieg des Kilimandscharo, aber da war es nicht brütend heiß sondern minus zwanzig Grad kalt. Ich bin normalerweise hart im Nehmen, aber heute entscheide ich mich nach einer Stunde in der Hölle, anstelle der offiziellen Wegführung zu folgen, querfeldein zu laufen, um so hoffentlich bald die nächste Straße zu erreichen. Immerhin, denke ich mir, so nah wie ich dem weißen Häuschen mittlerweile gekommen bin, besteht eine gewisse Chance, dass man mich von oben sieht, wenn ich bewusstlos umfalle oder an Hitzschlag sterbe.

 

Letztendlich erreiche ich die Straße und mit buchstäblich letzter Kraft schleppe ich mich ins nächste Dorf, wo ich das nächste Restaurant ansteuere und zwei Dosen Aquarius bestelle, bevor ich mich platziere. Ich schwitze so dermaßen nach, dass ich nochmal raus muss und meine Wallungen passieren lasse, bevor ich mir mit einem großen Salat neues Leben einhauche. Derart gestärkt schaffe ich die letzten zwei Stunden auch noch. Es geht alsbald zwischen weiteren Industriegebieten entlang und nur weil dazwischen ein dreckiger Fluss fließt, ist das ganze als Erholungsgebiet ausgezeichnet, haha. 

 

Ich sollte vielleicht erwähnen: ich habe in Orbito, dem Ort meiner nutritiven Rettung, den offiziellen Camino verlassen und laufe nun eine Weile meinen eigenen Weg. Der Grund dafür ist einerseits die Übernachtungssituation, zum anderen eine Kirche, die ich morgen ansteuern möchte und die abseits liegt. So übernachte ich in Novelda.

 

Bei meiner Ankunft im hellhörigen Hotel wird im Zimmer links gebumst und von rechts dudelt unentwegt Luis Miguel. Später fängt auch ein Hund an zu bellen, aber dies alles kann mir heute nichts ausmachen. Ich lebe!  Und ich habe den ersten Tag, der oft der anstrengendste ist, überstanden. Ich drehe noch eine Runde durch den Ort, rufe Oma an und esse Spaghetti Carbonara in einer Pizzeria. Danach schlafe ich zu Vivaldis Nisi Dominus wie ein Stein.

7.10.2024
Novelda - Sax (25,2 km)

Also dafür, dass angeblich direkt vor dem Hostal zwei Bars sein sollen, in denen ich frühstücken kann, habe ich wirklich mein Tun, überhaupt etwas zu finden. Es ist Montag, da haben viele Bars geschlossen. Am Ende lande ich in einer Bäckerei, kaufe mir zwei Schokocroissants und einen geeisten Kaffee. Ich verputze alles im Zimmer und mache mich dann auf den Weg. 

 

Aus Novelda heraus geht eine ruhige Straße in Richtung Santuario de Santa Maria Magdalena. Da die Straße außer zur Kirche nirgends hinführt und diese erst um zehn aufmacht, ist es erfreulich ruhig. Spaziergängern (viele mit Hund) und Radfahrern begegne ich hingegen zu Hauf. 

Die Kirche geht auf eine private Initiative zurück und ist unverkennbar von Antoni Gaudí inspiriert, weshalb sie auch die kleine Sagrada Familia genannt wird. Von besonderem kulturhistorischen Wert ist sie ansonsten nicht, aber trotzdem einzigartig und sehenswert. Ich bin um halb zehn dort, die Tür ist auf und außer dem Reinigungsmann ist niemand da. So mag ich das. Hin und wieder kämpft sich ein Jogger den Berg hinauf, hält kurz inne und macht sich wieder auf den Rückweg. 

 

Nachdem ich alles gesehen habe, setze auch ich meine Tour fort. Diese geht nun wunderbar idyllisch entlang an einem Flüsschen, das neben an sich schon beeindruckenden Salzablagerungen noch rote und schwarze Ablagerungen von irgendwas anderen zu bieten hat. Ich verstehe weder die spanische noch die katalanische Beschreibung, ist mir auch ein bisschen egal. Sieht auf jeden Fall toll aus und ist durchaus beeindruckend.

So geht die Strecke dahin, bis sie irgendwann Elda erreicht, eine wenig ansprechende Stadt, die sich endlos zieht, bis man dann endlich mal das Zentrum erreicht. Irgendwie sollte ich was essen. Wie praktisch, dass neben der Bar, in der ich ein Aquarius bestelle und sonst nichts, weil es beim Hineingehen doch irgendwie bedenklich aussieht, ein Obstladen ist. Keine Ahnung wieso, aber ich denke schon die ganze Zeit an Pflaumen. Ich kaufe also so viele Pflaumen, dass es für ein Mittagessen ausreichend ist, dazu noch Trauben und Wasser. Mit meinen Einkäufen lasse ich mich im gegenüber liegenden „Musikpark“ nieder und esse zu aus irgend einem Lautsprecher spielender Geigenmusik meine Pflaumen. Wunderbar entspannend ist das!

 

Um aus dem Zentrum in entgegengesetzter Richtung wieder rausgekommen, zieht es sich wieder endlos, diesmal sogar noch endloser, denn es geht nun bergauf. Nach einer erneuten 40/70-Prozent-Steigung, die mich diesmal aber nicht in die Knie zwingt, geht es auf der anderen Seite wieder runter in Richtung eines neuen Flüsschens. Es geht teilweise mehr der Nase nach als dass die Pfeile Klarheit bringen würden. Und irgendwann endet der Weg im Nirgendwo. Ich stehe vor einer Wand aus Schilf, die schlichtweg nicht zu durchbrechen ist. Ich muss nun also circa einen Kilometer zurück, und dort auf der Straße weiter gehen. 

 

Das an sich ist schon ärgerlich genug. Was die Situation aber dramatisch macht, ist der vorangegangene exzessive Konsum von Pflaumen, dessen abführende Wirkung mir bislang unbekannt war. Ich habe auf einem Jakobsweg mal abends Linsensuppe gegessen, ein Fehler der mir auch kein zweites Mal passiert. Mit Pflaumen hatte ich diese Erfahrungen bislang nicht. In mir brubbelt und rumort es, aber eigentlich bin ich ja bald da, im Hotel. Deshalb will ich mich auch nicht noch mal in die Büsche schlagen. Direkt neben der Straße ohnehin denkbar schwierig. Mit Magenkrämpfen und letzte Kräfte mobilisierend schaffe ich es endlich bis ins Zimmer. 

 

Nachdem ich mich einigermaßen von der misslichen Situation erholt habe, drehe ich eine Runde durch den Ort, gehe hoch zur Burg, die leider geschlossen ist, gehe wieder runter, trinke ein Bier und esse zu guter Letzt im Hotel zu Abend. 

8.10.2024
Sax - Caudete (32,4 km)

Es vergeht kein Camino, ohne dass mir irgendwann über Nacht das Essen auf den Magen schlägt. Dabei habe ich gestern Abend eigentlich sehr gut im Hotel gegessen und es waren weder Eier noch selbstgemachte Mayonnaise dabei. Trotzdem ist mein Magen heute Morgen flau, und wenn der Magen flau ist, läuft es sich gar nicht gut. Mein Frühstück besteht daher heute aus Bananen und Tee in der Hoffnung, das bald Besserung eintritt. Ich lege mich noch mal aufs Bett und lasse die gesunde Ernährung Wirkung zeigen. Währenddessen beginnt in der Schule gegenüber der Unterricht. Ein witziger Sportlehrer animiert seine Schützlinge lautstark, singt zwischendurch O sole mio und motiviert mich als Nebeneffekt gleich mit, endlich aufzustehen und zu starten. Also ziehe ich mich fertig an und mache mich auf den Weg. 

 

Die Strecke ist ganz nett, geht durch kleine Hügel und später Felder hindurch, meist in Sichtweite der Schnellzugtrasse. Zwischendurch passiert man die Colonia Santa Eulalia, schon halb verfallen aber auch noch halb bewohnt und einigermaßen Furcht einflößend. Bestimmt haben sich hier auch solche Gräuel wie in der Colonia Dignidad abgespielt. 

 

Der AVE aus Alicante kommt, hält am Bahnhof von Villena, der mindestens fünf Kilometer außerhalb des Ortes ist. Kurz drauf kommt der AVE aus Madrid und fährt durch. Ich laufe nun in Richtung Villena. Schon von weitem ist die Burg zu sehen. Erst einmal in der Stadt angekommen denke ich mir, na wenn ich schon mal hier bin, kann ich zumindest mal hoch gehen und mir die Burg aus der Nähe anschauen. Naja, und eigentlich kann ich auch reingehen und die Aussicht vom Turm aus genießen. Die Burg ist wirklich toll! Sehr groß, bestens restauriert, auf den verschiedenen Ebenen im Turm sind schöne Ausstellungen (die ich mir allesamt schenke). Von oben ist die Sicht in alle Richtungen wirklich grandios. Ein Blick auf die Uhr sagt, dass es schon halb zwei ist. Ups, hier oben vergisst man wirklich die Zeit! Ich mache mich nun an den Abstieg, esse im Zentrum noch ein menú del día und laufe weiter nach Caudete.

 

Es geht nun nur noch über langweilige Felder, mal über kleine, kaum befahrende Asphaltstraßen, mal über steinige Feldwege. Insgesamt einigermaßen fad, nichts besonderes. Wäre die Etappe ein Wochentag, wäre sie ein Dienstag. Nicht so schlimm wie gestern aber das Ende sieht man noch nicht wirklich. 

 

Die Strecke von Alicante bis Caudete teilt sich die Lana übrigens mit dem camino sureste. Dieser zweigt in Caudete ab in Richtung Albacete und trifft dort auf den Levante, mit dem er sich im wesentlichen bis Medina del Campo die Strecke teilt. Dort zweigt dann der Levante ab nach Zamora und der sureste geht weiter nach Norden, bis er in Sahagun auf den francés trifft. Da ich den Levante ja bereits komplett gelaufen bin, kann ich also sagen, dass ich auch ca. 80% des sureste abgelaufen bin. Mir fehlen nur die beiden erwähnten Teilstücke, die zusammen maximal 200 Kilometer ausmachen. Wenn ich diese noch nachhole, kann ich also einfach meine anderen Einträge kopieren und hätte einen eigenen Blog für den sureste. Hehehe. 

 

Caudete ist ein nettes Örtchen. Nachdem ich mein Zimmer bezogen und mich frisch gemacht habe, drehe ich eine Runde über die zentrale Plaza, an der sich neben Musik- und Tanzschule, in der gerade Flamenco geübt wird, auch das Schwimmbad befindet sowie einige Bars, die alle besetzt aber nicht voll sind. Ich trinke ein Bier, esse ein Sandwich und gehe gegen halb zehn zurück in meine Pension. Die Leute in den Bars waren alle recht entspannt und ruhig, niemand hat gelärmt. Angenehm. Ein typischer Dienstag. 

9.10.2024
Caudete - Almansa (26,2 km)

Heute starte ich mit fünf Litern Wasser, denn bis Almansa geht es zumindest in den ersten Stunden permanent bergauf und es gibt zwischendurch keine Möglichkeit, etwas zu kaufen. Wie es sich anfühlt, mit zu wenig Wasser gestartet zu sein, weiß ich noch von Tag eins. Es geht gemächlich am Hügel entlang, weit und breit kaum ein Mensch. Später führt der Weg direkt an der Autobahn entlang, auch kilometerweit. Nicht mehr so entspannend. 

 

Nach etwa zwei Stunden gönne ich mir eine Pause, setze mich auf die kreuzende Autobahnbrücke und schaue in die Ferne. Plötzlich steht jemand neben mir und ich erschrecke mich gehörig. Eine ältere Pilgerin, Französin, den Namen hab ich vergessen. Dass ich heute irgendwann den Levante kreuzen würde, wusste ich ja. Aber was macht die denn hier? Der Levante läuft doch ganz woanders lang! Geh zurück zu deinem Abzweig! Natürlich ist sie falsch abgebogen, hat außerdem statt Albacete Alicante gelesen und dachte, na das ist falsch, nach Alicante will sie nicht, also ist sie links statt rechts und somit in Richtung Alicante statt nach Albacete. Nun steht sie hier. Hier sind doch auch Pfeile, sagt sie mir. Ja, aber das sind meine, die gehören zur lana. Deine Pfeile sind dort drüben auf der anderen Seite der Autobahn. Sie setzt sich neben mich auf den Asphalt und es ist vorbei mit meinem schizoiden Dasein. Anschließend laufen wir gemeinsam, immer wieder hält sie an, weil sie irgendwas aus dem Rucksack holt, mal was zu essen, mal ein Buch, das sie mir zeigt oder eine Karte. Ihr Englisch ist so lala und als sie merkt, dass ich ihr französisch einigermaßen verstehe, wechselt sie in ihre Muttersprache, was es noch unentspannter macht für mich. Ich bin froh als sie irgendwann sagt, sie braucht eine Pause. Ich laufe noch eine ganze Weile weiter, drehe mich verstohlen um, sehe niemanden kommen, und atme durch. Sie ist nicht unsympathisch, aber irgendwie viben wir nicht.

 

Ich hatte erwartet, irgendwann wieder auf dem Levante zu landen, aber die lana folgt bis Almansa ihrem eigenen Weg. Beide Wege treffen sich nicht. Ich schaue von meinem Punkt weiter oben immer wieder nach rechts unten, wo ich vor zwei Jahren entlang gelaufen bin. An die schmerzenden Füße von damals erinnere ich mich nach wie vor sehr gut.

 

In einem Schicki-micki-Restaurant esse ich Mittag. Es ist halb vier und ich bin wirklich hungrig. Da heute schon wieder irgendein valencianischer Feiertag ist (wir sind doch gar nicht mehr in der Comunidad Valenciana, sondern in Castilla - La Mancha!?), gibt es kein menú del día. Der Kellner schlägt mir eine Tostada vor, die ich nehme, und zu der ich noch einen Salat bestelle. Die Tostada halte ich für ein Amuse-geule und warte nach meinen Salat auf den zweiten Gang, bis der Kellner mich fragt, ob ich noch eine Nachspeise will. Ausgehungert bestelle ich noch einen Käsekuchen und zahle für den ganzen Spaß 30 Euro. Nun ja, zumindest war es lecker.

 

Ich steuere nun meine Unterkunft an, bei der ich auch vor zwei Jahren schon war: Hostal el Estudio. Als ich ankomme sage ich Amparo, dass ich vor zwei Jahren schon mal hier war und sie zeigt sich sehr emotional und gibt mir ein Zimmer mit einer Riesenterrasse. Danach starte ich meine Tour zu meinem happy place, der Burg von Almansa, trinke dunkles Bier an der zentralen Plaza, esse schlechten Burger, denn das Restaurant, in dem ich damals das leckere Tatar gegessen habe, gibt es dort nicht mehr, und lege mich wieder beizeiten schlafen. 

10.10.2024
Almansa - Alpera (23 km)

Auch wenn sich die Lana und der Levante gestern nicht begegnet sind: heute teilen sie sich die Etappe. Ich laufe also wieder in Richtung des markanten Tafelberges El Mugrón raus aus Almansa. Der AVE aus Madrid kommt und kurz darauf der aus Alicante. Ich hatte schon auf beide gewartet. Ab heute wird meine Route die Zugstrecke, die die letzten Tage mein Begleiter war, verlassen. Schade irgendwie.

 

Es ist kühl und ziemlich windig, so dass ich meine Fleecejacke heute nicht ausziehen kann. An der Hälfte der Strecke, dort wo der aus Osten kommende Weg nach Norden weiterführt, am höchsten Punkt der heutigen Etappe, steht ein markanter, einsamer Baum, und darunter sitzt ein Persönchen, das mir schon von weitem zuwinkt: die Französin von gestern. Sie hat es sich im Windschatten des Baumstammes gemütlich gemacht und futtert. Ob ihr Almansa gefallen hat, frage ich sie. Sie hat es sich nicht angeschaut. Jeder muss ja seinen eigenen Weg gehen, aber mir wird unbegreiflich bleiben, wie man durch all die hübschen kleinen Städtchen kommen und sie dann ignorieren kann. Da im Windschatten des Baumes für uns beide kein Platz ist, ist es unangenehm frisch, so dass ich meine Wanderung schnell fortsetze bevor ich auskühle.

 

Als ich gegen drei in meinem Hostal ankomme, sitzt dort im Restaurant ein weiterer Pilger, der gerade sein Mittag beendet. Das muss der Spanier sein, von dem mir die Französin gestern erzählt hat. Wir grüßen uns kurz, kommen aber nicht weiter ins Gespräch. Nach dem Essen hab ich sogar Zeit für ein Schläfchen. Das Bett ist so dermaßen unbequem, dass mir danach alles weh tut. Ich werfe erstmals auf der Reise zwei Ibus ein und lege die dicken Decken aus dem Schrank zwischen Matratze und Laken, damit ich heute Nacht weicher gebettet bin. 

 

Mein Hotel von morgen hat mir geschrieben, dass mein Zimmer um elf zur Verfügung stehen wird. Dabei habe ich doch morgen die längste Etappe und komme bestimmt nicht vor sechs an. Ich checke trotzdem mal, ob es Busse nach Alcalá gibt. Es gibt keine also gebe ich dem Hotel meinerseits Bescheid, das kein Grund zu Eile besteht. Allerdings reserviere ich auf Empfehlung einen Tisch im Restaurant, um dort Abend zu essen. 

 

Ich schaue mir diesmal Alpera an, das ich das letzte mal nur am Rande gesehen habe, und finde es recht hübsch. Das liegt allerdings auch daran, dass der Innen“Stadt“Bereich Ende 2022, also nachdem ich hier war, neu gestaltet und reformiert wurde. Das hat sich gelohnt. So charmant war Alpera damals jedenfalls nicht. Hier fällt mir wieder auf, dass es in den spanischen Städten viele arabisch stämmige Mitbürger gibt. In der Bar in Caudete haben sich alle Neuankömmlinge am Tisch neben mir mit Salam begrüßt und hier sind die zahlreichen Kopftuch tragenden Frauen im Supermarkt auffällig. 

 

Ich habe heute so viel zu Mittag gegessen, dass ich abends noch keinen Hunger habe. Ich trinke stattdessen zwei Bier in einer kleinen Bar und gehe früh zurück ins Hotel, um morgen ebenfalls früh wach zu sein. Mit den Decken liegt es sich etwas bequemer, allerdings ist es recht kalt hier drin. Die Klimaanlage bringt auch keine Wärme sondern wirbelt nur die Luft durcheinander und versieht sie mit einem komischen Geruch, so dass ich sie wieder aus und das Fenster auf mache, um neue reinzulassen. Am Ende ziehe ich mir meine Fleecejacke an und schlafe in dieser. Sollte mich mein Weg nochmal nach Alpera führen, werde ich hier nicht mehr übernachten.

11.10.2024
Alpera - Alcalá del Júcar (42 km)

Als ich gestern schon im Bett lag, hat mich noch eine Email erreicht, über die ich mich sehr gefreut habe. Christiane, ebenfalls erfahrene Pilgerin, ist bei der Suche nach Erfahrungsberichten zum mozárabe auf meinen Blog aufmerksam geworden und hat mich in ihrer Email zum einen sehr charmant und treffend beschrieben, zum anderen gleich noch mit Tipps versorgt zum weiteren Verlauf meiner Reise. Hin und wieder schreiben mich Leute an, meistens haben sie eine Frage. Ich freue mich immer darüber, zeigt es doch, dass mein Blog gelesen wird. Über Christianes Mail habe ich mich besonders gefreut und sie drei mal gelesen. 

 

Heute erwartet mich die längste Etappe, daher stehe ich früh auf. Tomás hat mir gesagt, dass die Bar um sieben öffnet und man auch Tostadas bekommt. Vor zwei Jahren gab es nur Magdalenas. Als ich um kurz nach sieben seine Bar ansteuere, finde ich sie allerdings verschlossen. Dann nehme ich eben die gegenüber, die hat schon geöffnet. Ich bestelle einen Milchkaffee und eine Tostada. Er hat keine Tostadas, nur Magdalenas. Letztlich frühstücke ich doch bei Tomás und mache mich gegen zehn vor acht auf den Weg.

 

Der Weg geht nun hinein ins Grüne. Endlich! In Hörweite der Straße geht es an den Bergen entlang, bis es irgendwann mitten rein geht. Ungefähr nach 15 km teilt sich der Weg: rechts geht es nach Alatoz, wo ich hin will, links nach Higueruela. Schau an, hier kommt man also auch dahin! Ich erinnere mich noch lebhaft an die schmerzenden, endlosen Kilometer auf Asphalt die letzten zehn, zwölf Km vor Higueruela. Da ist diese Route hier landschaftlich viel reizvoller. Für mich geht es nun richtig rein in die Berge, mal mehr mal weniger gemächlich aber stetig bergauf. Und überall ist es grün, ein Wald voller Eichen, Pinien, Kiefern und anderen Nadelhölzern. Bislang ist dies die schönste Etappe der Lana.

 

Gegen 14 Uhr komme ich in Alatoz an. Ein Drecksloch, überall liegt Müll rum! Eigentlich hatte ich überlegt, hier eine Kleinigkeit zu essen. Darauf verzichte ich. Ich hatte auf dem Weg ohnehin meine Schoko-Kekse sowie eine Packung Studentenfutter verdrückt und heute Abend erwartet mich im Hotel das Menü. Also trinke ich kurz ein Radler und mache mich wieder auf den Weg für die restlichen 15 km. 

 

Gegen 19 Uhr komme ich in meinem Hotel an. Endlich. Meine Beine brennen. Heute hatte ich wirklich keine Lust mehr. Hätte mich eines der vorbeifahrenden Autos gefragt, ob ich mit will, ich wäre eingestiegen. Aber nun bin ich ja hier, und mit mir kommen noch eine Reihe andere Gäste an. Veronica checkt mit einer Seelenruhe jeden ein und bringt ihn auf sein Zimmer. Irgendwann auch mich gemeinsam mit Julio, der kurz nach mir angekommen ist. Das Hotel ist terrassenartig aufgebaut. Auf jeder Ebene befinden sich fünf Zimmer, alle mit Blick auf das traumhaft gelegene Alcalá del Júcar. Da wir beide Einzelzimmer gebucht haben und zudem fast zeitgleich angekommen sind, sind Julio und ich nun Zimmernachbarn. 

 

Beim Abendessen haue ich mir den Magen voll, bestelle eine Extraportion Käse und trinke eine komplette Flasche Roséwein. Wieso auch nicht, ich hab morgen frei.

12.10.2024
Wanderfreier Tag in Alcalá del Júcar

Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg in den kleinen Ort. Es gibt hier einiges zu entdecken. Während ich gerade die römische Brücke überquere um auf der anderen Seite hoch zur Burg zu gehen, kommt Julio aus einer Gasse raus. Da er auch hoch zur Burg will, setzen wir unsere Tour gemeinsam fort. An die Besichtigung der Burg schließt sich eine kleine Wanderung am Flussverlauf an. Anschließend gehen wir ein Bier trinken und essen einen Happen. Julio wohnt in Aranjuez, gelegen zwischen Toledo und Madrid, ist alleinerziehender Vater zweier kleiner Mädchen, die er ein-, zweimal im Monat in Richtung der Mutter bringt. Dann nimmt er sich das Wochenende frei und erkundet die Gegend. So hat es ihn dieses Wochenende nach Alcalá verschlagen. Wir verstehen uns blendend. Er erinnert mich ein bisschen an Charly aus Rotterdam, den ich auf dem francés kennengelernt habe.#

 

Nach dem Essen brauche ich ein Mittagsschläfchen. Ich schlafe fast drei Stunden, wache gegen halb sieben wieder auf. Zu Abend essen wir wieder gemeinsam im Hotel. Mein Körper sagt mir schon die ganze Woche, wie sehr er Salat und Obst verlangt. Heute verlangt er Pizza Capricciosa. Nach dem Essen kläre ich mit Veronica noch ab, wann ich morgen zum Frühstück kommen kann, und mit einen Kakao-Mandel-Tee ziehe ich mich auf mein Zimmer zurück.

 

Julio hat mich beim Abendessen auf ein Musikstück hingewiesen, dass ich bisher überhaupt noch gar nicht kannte: das Concierto de Aranjuez, ein Solokonzert für Gitarre und Orchester von Joaquín Rodrigo. Ich höre es mir an, während ich im Bett liege und schließe diese Bildungslücke. Ich hatte mir auf diesem Camino ohnehin vorgenommen, mir nichts anzuhören, was ich schon kenne, sondern entweder neue Aufnahmen zu entdecken oder, noch besser, neue Werke. So trifft sich das heute ganz wunderbar. 

 

Abschließend stelle ich fest: es war ein großartiger Tag heute in toller Gesellschaft. Mein wanderfreier Tag hätte kaum schöner ausfallen können. 

13.10.2024
Alcalá del Júcar - El Herrumblar (35,5 km)

Nach einem letzen gemeinsamen Frühstück in meinem tollen Hotel bin ich gegen halb zehn startklar. Zur Verabschiedung gibt es eine herzliche Umarmung von Veronica, die durch ihre Kollegin ausrichten ließ, ich solle ja nicht gehen, ohne ihr Tschüss zu sagen. Ich mag es ja, wenn ich cariño und corazón und so genannt werde, und das macht Veronica dauernd, während sie mich am Arm oder an der Schulter tätschelt. Das gibt mir ein bisschen das Gefühl, wieder Kind zu sein. Dabei bin ich vermutlich älter als Veronica…

 

Nun beginne ich gemeinsam mit Julio, der für seine Mädchen Süßigkeiten kaufen will, den Abstieg hinab ins Dorf. Dort wo wir uns gestern getroffen habe, verabschieden wir uns jetzt voneinander, und ich setze meine Reise wieder allein fort. Diese beginnt mit dem Aufstieg auf der anderen Seite des Flusses, wie sollte es auch anders sein. Ist dieser geschafft, ist der Rest der Etappe hoffentlich ein Kinderspiel. Es geht noch mal direkt am Canyon entlang und die Ausblicke sind grandios.

 

Gegen Mittag ruft mich die Pension an, die ich für heute gebucht habe. Wann ich denn komme, denn sie machen gegen 15 Uhr zu. Mittlerweile hab ich das ganz gut drauf und kann auf eine halbe Stunde exakt abschätzen, wann ich ankomme. So gegen 18:30 Uhr müsste das sein. Der Wirt erklärt mir nun alles genau, wo er meinen Schlüssel deponiert, wie der Code ist, wo ich das Zimmer finde, schickt mir noch die Nummer seiner Frau, falls etwas ist und er nicht rangeht usw. Ich bin tiefenentspannt: was soll schon schiefgehen?

 

In Casas-Ibáñez folge ich meinem eigenen Rat nicht und mache in der ersten Bar halt, worüber ich mich später ärgere, denn das Zentrum ist recht nett und sehr belebt. Hier hätte es sich auch gut aushalten lassen für einen Snack. Nun ja. Beim „Haus im Gaudi-Stil“ lege ich noch einen kurzen Stopp ein und mache ein paar Fotos. Dann geht es weiter, wieder über endlose Weinberge.  

 

Donnerstag kommt Biden nach Berlin, sagt mir ZDFheute. Soso. Da bin ich einmal nicht da und schon kommt Mr. President. Die Abstinenz vom politischen Geschehen ist etwas, was ich sehr genieße auf dem Camino, obgleich ich natürlich die interessanten Push-Mitteilungen, die mir DER SPIEGEL und ZDFheute schicken, regelmäßig lese. Am Wochenende kommt außerdem LesMills nach Berlin! Das wurmt mich viel mehr, dass ich da nicht hin kann. Ich hätte so gerne mit Rachel und Dan BodyCombat gemacht. Sie haben mich während Corona bei Laune gehalten und ich bin nach wie vor Abonnent der App. So sehen sie aus, die Opportunitätskosten des Caminos.

 

Gegen 17 Uhr komme ich ins nächste Dorf, sehr uncharmant! Das Bediensel schnappt sich den letzten Salat als sie sieht, dass ich ein Auge drauf werfe. So gibt es auch hier nur ein Radler und ich ziehe weiter in Richtung meines Etappenziels, dass ich um 18:45 erreiche. Der Schlüssel ist dort, wo er sein soll. Und mein Zimmer ist eine Abstellkammer ohne Aussicht. Da hätte er mir ruhig ein Upgrade geben können zumal ich glaube, dass außer mir niemand hier ist. Nach einer Dusche finde ich zum Glück eine Bar, in der man auch ganz gut essen kann. Es wird bummvoll, ich trete meinen Tisch ab und setze mich zugunsten anderer an die Bar. Wenn mein Bier leer ist, lege ich mich schlafen. Hoffentlich ist die Matratze einigermaßen…

14.10.2024
El Herrumblar - Campillo de Altobuey (37,2 km)

Heute Nacht habe ich, während ich auf der untergelegten Decke mehr schlecht als recht schlafen konnte, mal wieder von der Arbeit geträumt. Die letzten Male drehte sich der Traum allerdings immer um den letzten Arbeitstag. Auch wenn mir der Wechsel manchmal Angst macht, fühlt er sich doch richtig an.

 

Beim Frühstück bin ich heute zwei weiteren Pilgern begegnet und es ergab sich sogar die Gelegenheit für einen Mini-Plausch. Es handelt sich um ein Rentner-Ehepaar aus Belgien, die sehr kurze Etappen machen. Eigentlich machen sie täglich immer genau die Hälfte von meinen Etappen. Sie haben mich nach meinen Übernachtungen in den bevorstehenden Orten gefragt und in der Hälfte davon übernachte ich nicht. Naja, ich begegne ihnen vermutlich nun nicht mehr, da sie bereits eine Tagesreise hinter mir sind.

 

Der Weg raus aus El Herrumblar nach Villarta und dann weiter nach Granja de Iniesta ist super langweilig. Es geht nur durch Weinberge und da es sehr diesig ist heute, hat man auch keine guten Aussichten. Die Pfeile sind ebenfalls mehr als spärlich gesät. Am besten war die Markierung zwischen Alpera und Alatoz, da hatte jeder zweite Stein einen Pfeil. Hier jedoch fehlen sie selbst an den meisten Weggabelungen. Ohne die App hätte ich keine Chance.

 

In Granja mache ich ein längeres Päuschen, esse etwas und bereite mich emotional vor auf die kommende 20-km-Etappe zu meinem heutigen Tagesziel Campillo de Altobuey. Es geht zunächst rein in die Hügel und auf einmal kommt die Sonne raus und es wird richtig schön. Anschließend passiere ich die größte (noch zu errichtende) Solaranlage, die ich bislang gesehen habe. Die Fitness-App verrät mir, dass es am Ende über drei km waren, die ich durch Solarpanele bzw. deren noch unfertigem Rohbau gelaufen bin. Vermutlich wird die Streckenführung des Camino hier nicht mehr ewig durchgehen. 

 

Es geht weiter bergauf. Zwischendurch erleide ich eine Schrecksekunde, denn ich trete beinahe auf eine ca. 80 Zentimeter lange Schlange. Sie liegt starr am Boden. Ist das eine Taktik bei Gefahr, bewegungslos sein und sich tot stellen? Ich weiß es nicht und teste auch nicht mit meinen Teleskopstöcken, ob ich sie dazu bringen kann, sich zu bewegen. Gibt es eigentlich gefährliche Schlangen in Spanien? Vermutlich wie in Deutschland: giftig ja, aber wirklich gefährlich nicht. Die nächsten 15 Minuten checke ich den vor mir liegenden Boden genau, halte immer wieder Wurzeln für Schlangen. Nach und nach vergesse ich den Vorfall jedoch und schaue wieder in die Ferne. 

 

Ein kleiner Mann springt aus den Olivenbäumen hervor und erklärt mir ausführlich, wann ich wo geben muss, um auf direktem Weg nach Campillo zu kommen. Ich solle einfach den gelben Pfeilen folgen, fasst er seine Ausführungen zusammen. Als ich kurz später Rast mache, radelt er an mir vorbei, hält aber an um mir Weintrauben in die Hand zu drücken. Ich esse ein paar, ohne mit Gedanken über die hygienischen Begleitumstände zu machen, und werfe den Rest weg. 

 

Wo ich schon mal sitze, kann ich auch meine Emails checken. Siehe da, die Lufthansa meldet sich und schickt mir alle möglichen Informationen zu meinem ersten Arbeitstag. Ich überfliege die Mail, es sind wirklich eine Menge Informationen, und mache mich dann wieder auf den Weg. Tatsächlich denke ich nun darüber nach, wie das wohl werden wird ab November und bin richtiggehend beflügelt. Die Kilometer laufen sich jetzt fast von allein, so viel Energie verspüre ich. Es war schon die richtige Entscheidung zu wechseln. Das wird mir immer wieder klar. 

 

Gegen 19 Uhr erreiche ich mein Landhaus, in dem mir ein sehr hübsches Zimmer zugeteilt wurde. Wenn ich hier wieder Knochenschmerzen verspüre, liegt es definitiv nicht am Bett. In der einzigen geöffneten Bar, die ich finde, bestelle ich einen Salat und eine Pizza. Heute hab ich mir das verdient. In dem Ort ist allerdings tote Hose. Nach kurzer Zeit bin ich der einzige Gast und die Bar bleibt nur meinetwegen geöffnet. Ich sehe zu, dass ich meine Pizza verdrücke und verschwinde.

16.10.2024
Campillo de Altobuey - Monteagudo de las Salinas (32,6 km)

Dank eines kleinen bereitgestellten Frühstücks bestehend aus jeweils zwei eingeschweißten Muffins, zwei Kaffees und zwei kleinen Säften spare ich mir heute die Suche nach einer Frühstücksbar, sondern starte direkt los. Es geht unspektakulär die nächsten 15 km auf einer kleinen, kaum befahrenen Asphaltstraße bis ins nächste Dorf. Über Nacht sind Regenwolken aufgezogen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mit meiner Oma mal über Beerdigungen gesprochen. Meine Oma wird in nicht mal zwei Monaten 95 Jahre alt und hat die meistens lieben Menschen gehen sehen. Ich kenne niemanden, der dem Tod entspannter entgegen sieht, ja sich sogar darauf freut. Wovor sie sich aber gruselt, ist der Moment, wenn die Urne in die Erde gelassen wird. Da habe ich den Gedanken entwickelt, dass wenn der Körper, der ja zu über der Hälfte aus Wasser besteht, verbrannt wird, verdunstet ein großer Teil und kommt woanders als Regen wieder auf die Erde zurück. Ich fand den Gedanken tröstlich und kann auch keine Logikfehler erkennen. Dass meine Oma seitdem weniger Angst vor ihrer eigenen Beerdigung hat, glaube ich allerdings nicht. 

 

Nach all den Kilometern auf Asphalt hat sich unter meinem vierten linken Zeh doch tatsächlich eine kleine Blase entwickelt. Es ist die erste auf dem Weg und nachdem ich sie fachmännisch versorgt habe, spüre ich sie kaum noch.

 

In Paracuellos gibt es zwar eine Bar, aber die macht erst 16:30 Uhr auf. Das nützt mir nichts. Ich frage eine entgegenkommende Frau, ob es denn eine Tienda, einen Laden gibt. Ja, direkt schräg hinter mir. Lettern auf farbigen Kacheln hätten es dem aufmerksamen Leser verraten, ansonsten deutet von außen nichts darauf hin, dass es hier etwas zu kaufen gibt. Glücklicherweise ist sogar geöffnet, ich muss also nicht verhungern. Reichhaltig ist die Auswahl indes nicht. Ich verlasse den Laden mit vier eingeschweißten Schokocroissants und einer großen Flasche Wasser. Auf der angrenzenden Plaza esse ich zwei davon. Dann setze ich meinen Weg fort.

 

Man sieht es vorher nicht, aber hinter Paracuellos tut sich plötzlich eine Art Canyon auf und mittendrin thront eine Burg. Das ist mal ein beeindruckender Anblick. Und um dem ganzen noch ein bisschen Dramatik zu verleihen, setzt in eben diesem Moment ein heftiges Gewitter ein. Den ganzen Morgen hat das Wetter gehalten, jetzt donnert es im Sekundentakt und aus dem Starkregen wird Hagel und dann wieder Starkregen. Müssen die Toten ausgerechnet jetzt auf die Erde zurück kommen? Ich schaffe es gerade noch, meinem Über-den-Rucksack-Poncho anzulegen, suche Schutz in einem Felsvorsprung, bin aber zu massig mit dem Rucksack. Also trotze ich dem Ungemach und setze meinen Weg fort. Das Gewitter zieht vorüber, und für mich geht es nach dem Canyon nun wieder bergauf in die grünen Hügel hinein.

 

Unangenehmer Nebeneffekt des Regens ist, dass man nicht mal einfach so seinen Rucksack an den Straßenrand werfen und Pause machen kann. Mit dem Megaponcho sowieso nicht. Es ist einfach alles nass und matschig. Will man mal den Rucksack ablegen, braucht man dafür eine Stein oder Baumstumpf oder Ähnliches. Hinsetzen und Schuhe ausziehen geht eigentlich gar nicht. 

 

Wieder werde ich unterwegs von meiner Pension angerufen. Bei der Gelegenheit frage ich sie gleich, ob es im Ort eine Bar gibt oder ob es ratsam ist, sich in der tienda mit Abendessen zu versorgen. Es gäbe eine Bar, sagt mir Sandra, diese macht aber auf, wenn ihr danach ist. Verlassen könne man sich darauf nicht. Und da sie neben der tienda wohnt, soll ich ihr Bescheid geben, wenn ich dort bin. Ich gehe also, als ich Monteagudo erreiche, direkt zur tienda, die ich allerdings verschlossen vorfinde und rufe Sandra an. Zwei Minuten später ist sie da und meint, die Ladenbesitzerin sei auch da, wir klingeln einfach. Und tatsächlich öffnet sich kurz darauf die eben noch verschlossene Tür und auch wenn von außen nichts darauf hindeutet, gibt es drinnen alles mögliche zu kaufen. Mit einem halben Baguette, ausreichend Schinken, Käse und einer Dose Bier sollte ich heute Abend über die Runden kommen. Ich werde das Haus heute nicht mehr verlassen sondern schlafe um kurz nach zehn. 

16.10.2024
Monteagudo de las Salinas - Fuentes (23,9 km)

Da ich es gestern nicht mal mehr auf die Burgruine geschafft habe, geht es heute morgen als erstes dorthin, nachdem ich mir ein Frühstück aus Instantkaffee (aus der tienda) und dem letzten verbleibenden Croissant gemacht habe. Die Ruine ist allerdings wenig sehenswert. Im Grunde stehen nur noch Reste der Außenmauern. Da es immer noch regnet, lässt auch die Aussicht einiges zu wünschen übrig. Unten dreht der Hund eine Runde, der gestern Abend plötzlich vor der Haustür stand, um meinem Gesang zu lauschen, als ich mein Abendbrot zubereitet habe.

 

Bevor es losgeht, schaue ich noch mal in der tienda vorbei. Da mir 23 km ohne Möglichkeit der Einkehr bevorstehen, fülle ich lieber meine Vorräte noch mal auf. Die tienda ist verschlossen, aber ich habe ja dazugelernt, also klingele ich. Und tatsächlich wird mir geöffnet. Es ist der Mann der Besitzerin. Er bittet mich rein, damit ich nicht nass werde. Brot ist noch keins da, aber ich könne hier drin warten. Wann es denn kommt? So gegen zehn. Und wann öffnet der Laden regulär? Um elf und meistens kommen dann alle Kunden des Tages innerhalb von zehn Minuten. Da ich nicht warten möchte, kaufe ich mir Kokoswaffeln und noch ein Wasser. Dann verlasse ich diesen kleinen, sympathischen und irgendwie schrulligen Ort.

 

Wieder geht es hinauf ins Grüne. Ich wandere in den Wolken auf dem Bergkamm entlang und es nieselt die meiste Zeit. Bei schönem Wetter muss die Aussicht hier oben fantastisch sein und die Strecke hätte vermutlich gute Chancen, den Preis der schönsten Etappe zu holen. Es ist sehr still hier oben. Hin und wieder hört man in der Ferne irgendwo einen Zug durchrauschen, sonst kaum ein Mucks.

 

Nach etlichen Kilometern, die meist schnurgerade dahin laufen, geht es bergab bis zu einer Gabelung. Der Pfeil weist nach rechts, aber dort ist ein großes Tor, das das Betreten verbietet. Vorsorglich weist man auch gleich auf die installierten automatischen Selbstschussanlagen hin. Ich erinnere mich an Christianes Email: geh rein, das Tor ist auf. Und tatsächlich kann ich problemlos das Grundstück betreten, winke freundlich in die Überwachungskamera, und setze meinen Weg fort. Es ist sensationell still hier. In der Ferne sehe ich Rehe meinen Weg kreuzen, also verzichte ich auf den Einsatz meiner Teleskopstöcke, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Wenn es hier Rehe gibt, kann es mit dem Einsatz der Selbstschussanlagen nicht weit her sein. Wieder sehe ich Rehe, aber bis ich mein Handy draußen habe, sind die natürlich längst weg. Letztlich gelingt es mir dennoch, ein Foto und ein Video zu machen. Und trotz des Wetters stelle ich fest: das hier ist das schönste Stück des Caminos bisher. Der Weg führt auf der anderen Seite des Berges wieder hinab nach Navarramiro de abajo, bestehend aus einem (verlassenen?) Haus, einer Kirche und einem neueren Gebäude, vermutlich zu landwirtschaftlichen Zwecken. Nach einer guten Stunde passiere ich wieder ein Tor, das zwar mit einer Kette gesichert ist, die aber gerade so lang ist, dass man mitsamt des Rucksacks hindurch schlüpfen kann. Zum Abschied winke ich noch einmal freundlich und gebe Daumen-hoch in die Überwachungskamera.

 

Der Wald endet, die Felder beginnen. Der Regen hört auf und die Sonne kommt raus. Zwischendurch mache ich einen kleinen Videocall mit Bernardo, dann setze ich den Abstieg in Richtung Fuentes fort. Es ist immer das selbe: man sieht das Dorf und es zieht sich ewig, bis man es erreicht. An meinem Hostal angekommen, winkt mir Maria vom Balkon zu. Sie hat mich schon von Weitem gesehen und sich gedacht, dass ich es bin. Nach einem kleinen Schläfchen esse ich etwas in der Bar, die Maria mir empfiehlt. Es sind zwar nur ein paar Männer da, aber die können nicht normal laut sprechen, sondern brüllen in einem fort. Zudem steht quasi neben meinem Tisch so ein Greifautomat und alle Nase lang kommt ein Kind herein, um sein Glück zu versuchen und das Ding dudelt die ganze Zeit. Mit Kopfschmerzen kehre ich zurück in mein Zimmer, werfe zwei Ibus ein, lege die Extra-Decke auf die Matratze, um es weicher zu haben, und schlafe gegen zehn Uhr ein. 

17.10.2024
Fuentes - Cuenca (22,3 km)

Also eins stelle ich fest: der Pausentag, an dem ich mein Knie und meinen linken Fuß immer wieder mit Voltaren versorgt habe, hat mir sehr gut getan. Mussten sich meine Knochen in den ersten Tagen an die ungewohnte Belastung gewöhnen, haben sie seit Alcalá gar nichts mehr zu meckern. 

 

Nach dem Frühstück geht es bei Regen los in die letzte Etappe. Laut Bardame soll es heute den ganzen Tag regnen. Wie schade, aber nicht zu ändern. Zu Beginn bin ich noch frohen Mutes, versuche es erst mit der Regenjacke, was auch eine Weile gut geht. Später führt am Poncho kein Weg mehr vorbei. Da hilft nur eins: singen. Roberto Devereux, Norma, Im Frühtau zu Berge, Les Mis: Heute kommt alles mal dran. Letzteres ist von Beginn an ein treuer Begleiter und im Laufe der Jahre habe ich mich von Fantine zu Valjean vorgearbeitet. Bring him home liegt mir mittlerweile gut in der Kehle. Nachdem bei der Premierenfeier der Intendant des Gärtnerplatztheaters die Frage gestellt hat: „Wer von den eingefleischten Les Mis Fans wusste, dass Gavroche Eponines Bruder ist?“ (ich nicht), lese ich Hugos Schinken, über 1300 Seiten dick aber ein echtes Meisterwerk was so viel erklärt, was im Musical kurz erwähnt wird, manchmal ohne dass man es überhaupt wahrnehmen würde. Die Zeile „he slept a summer by my side“, die ganze Geschichte des Geistlichen zu Beginn, und und und: alle möglichen Nebensächlichkeiten nehmen Dutzende Seiten ein. Es eröffnen sich wirklich neue Welten. 

 

Zwischen Mohorte und La Melgosa wird es besonders unangenehm, kalt und windig und es macht einfach keinen Spaß mehr. „Ne ne ne ne, das kann mir keiner sagen, dass Wandern in Spanien Spaß machen soll“ singe ich sächselnd in aufsteigenden Quarten im Falsett lauthals heraus. Eine Freude vor allem für mich, denn ich lache mich immer wieder über mich selbst kaputt. Camino-craziness: glücklich, wer sie erlebt hat. 

 

Noch ein tiefsinniger Gedanke: es geht nicht ums Erinnern, sondern ums Erleben. Erinnerungen können uns täuschen. Wir können die Fähigkeit des Erinnerns selbst verlieren und irgendwann wird sowieso niemand mehr da sein, der sich an das, was wir erlebt haben, erinnert. Aber wir werden es erlebt haben. So wie Beyoncé singt: I was here. Ach ja, bedeutungsschwere Gedanken. Auf dem Camino hat man Zeit, um über so vieles nachzudenken. 

 

Alles Singen kann nicht verhindern, dass das Wandern heute immer mehr zur Tortur wird. Unter meinen Schuhe kleben drei Zentner Matsch, auf sandigen Wegen geht es hoch und weiter hoch und runter, und wieder hoch und runter. Es ist eine der kürzesten Etappen heute, aber definitiv auch eine der anstrengendsten. Die erste war auch schlimm, aufgrund der Hitze. Diese hier steht der ersten in nichts nach. Als ich endlich Cuenca erreiche, kommt erstmals heute die Sonne raus. Ich setze mich auf einen großen Stein, mache mir die Schuhe ein bisschen sauber und sinniere. Heute war gar keine Zeit für Sentimentalität, aber hier bin ich nun, nach elf Wandertagen angekommen in Cuenca.

 

Ach, irgendwie bin ich nicht so recht der Typ für Sentimentalität. Ich setze meinen Rucksack wieder auf und wandere weiter, endlich auf Asphalt und nicht mehr auf matschigen Feldwegen. Bis in mein Hotel ist es noch ein gutes Stück Weg, da ich mich in einem ehemaligen Konvent in der Altstadt einquartiert habe, heute ein Hotel. Es ist sehr hübsch. Ich nutze die Gelegenheit, um endlich mal richtig Wäsche zu waschen. Danach haue ich mich aufs Ohr, denn es war wirklich anstrengend heute.

 

Als ich wieder wach werde, drehe ich noch eine große Runde, erst zu den casas colgadas, dann in die Kathedrale, denn es regnet wieder, dann einmal um die Altstadt. Irgendwo mache ich halt um Abend zu essen. Dann steuere ich wieder mein Hotel an und lege mich schlafen. Morgen habe ich noch den ganzen Tag Zeit für Sightseeing.

18.10.2024 
Cuenca 

Heute mache ich es mir gemütlich: direkt nach dem Frühstück, als noch kaum jemand auf den Beinen ist, laufe ich in Richtung Parador Hotel, von wo aus man die beste Aussicht auf die Casas Colgadas, die hängenden Häuser hat, drehe anschließend wieder die Runde von gestern hoch zum Castillo, das den Namen eigentlich gar nicht verdient, denn es steht eigentlich nur noch eine Mauer, treffe am Aussichtspunkt einen Wiener, der ein paar hübsche Bilder von mir macht und gehe anschließend ins Zentrum. Die Altstadt ist zwar sehr schön, aber doch auch ebenso überschaubar. Ich beginne mit einem Tinto de verano und kaufe anschließend ein paar Luxus-Artikel (zwei Parfums). Als um zwei Uhr die Läden schließen, trinke ich noch einen Wein und gehe, einen Abstecher in eine Ausstellung machend, zurück in mein Hotel. Gegen Abend verlasse ich es noch mal zum Essen mit dem Gefühl, nun alles Wichtige gesehen zu haben.

19.10.2024
Cuenca - Madrid

Das Taxi bringt mich zum einige Kilometer außerhalb der Stadt liegenden Bahnhof. Es ist recht wenig los. Ein Zug geht nach Alicante, einer nach Valencia, und eben meiner nach Madrid. Ich habe mir ein 1. Klasse Ticket gegönnt, was unwesentlich teurer war als die 2. Klasse. Nun habe ich sogar einen ganzen Waggon für mich allein und freie Platzwahl. Es geht mit 300 Sachen durch spanische Ebenen, vorbei an Aranjuez (wie nett!) und nach einer guten halben Stunde erreichen wir schon die Ausläufer der Stadt. Die restliche halbe Stunde der Reise zuckeln wir im Schneckentempo und großteils durch Tunnel bis zu unserem Zielbahnhof Chamartín, der genau wie letztes Jahr immer noch einer Großbaustelle gleicht. 

 

Mit der Metro fahre ich zum Hotel, das ich mir heute Morgen erst gebucht habe. Ich hatte noch auf fallende Preise gehofft. Leider Fehlanzeige. Übernachtungen in Madrid sind echt kein Schnäppchen. Unter 200 Euro pro Nacht ist es schwierig und sogar Etagenbetten im Mehrbettzimmer kosten mindestens 70 Euro. Ich werfe mein Zeug aufs Bett und verlasse das Hotel gleich wieder, denn erstens habe ich Hunger, zweitens hab ich für heute Abend eine Karte fürs Ballett und will mir dafür zumindest noch eine lange Hose kaufen. In einem Italiener mit kleinen aber leckeren Portionen bestelle ich mir erst einen Aperol und eine Pasta, dann einen zweiten und noch eine Pasta. Anschließend shoppe ich im Corte Inglés Outlet, das zwei Ecken entfernt liegt, eine Hose und auch noch ein T-Shirt und gehe zurück ins Hotel, um mich noch mal aufs Ohr zu hauen.

 

Die Teatros del Canal kenne ich noch nicht. Im Teatro Real ist leider Adriana Lecouvreur (mit meiner verehrten Ermonela Jaho) gerade abgespielt. Das Teatro de la Zarzuela bietet ebenfalls ein interessantes Zarzuela-Programm in sehr guter Besetzung (Ismael Jordi, Sabina Puértolas), aber leider gibt es keine Karten mehr. Also kaufe ich mir eine Restkarte für das Ballet Español de la Comunidad de Madrid. Der erste Teil besteht ausgerechnet aus der Suite Española von Albéniz, ein Stück, das mir Christiane empfohlen hat und das ich mir zwei mal abends angehört habe. Wie nett, so schließt sich der Kreis. Im zweiten Teil, übertitelt mit Epifanía de lo Flamenco, wird es traditionell, der Saal tobt, es gibt Standing Ovations und unzählige „Bravo“- und „Maravilla“-Rufe. Was für ein Abend. Ein krönender Abschluss meiner Reise.

20.10.2024
Madrid - München

Ich sitze im Flugzeug und es geht heim. Lust habe ich keine. Eigentlich würde ich gern in Madrid bleiben. Aber immerhin: ein ganz neues Kapitel in meinem Leben wartet in München darauf, aufgeschlagen zu werden. Darauf freue ich mich schon sehr!

 

Fehlt noch was: das Fazit. Ähnlich wie der Levante ist auch die Lana recht hübsch zu wandern, hat aber immer wieder seine Längen. Die ersten Etappen von Alicante bis Caudete fand ich persönlich anstrengend, was sicher auch der Eingewöhnung geschuldet war. Insgesamt ist der Weg infrastrukturell eher schwierig. Man sollte immer genügend Proviant für eine Nacht dabei haben für den Fall, dass man vor verschlossener Bar steht und es keine Alternative gibt. Auf der Habenseite stehen Perlen am Wegesrand: Alcalá und Cuenca zuvorderst, aber auch Monteagudo war auf seine Weise sehr reizend. Will ich die zweite Hälfte in Angriff nehmen? Aber sicher, vielleicht aber erst später. Die Übernachtungs- und Versorgungssituation wird bis Burgos rudimentär bleiben, weshalb es die Etappen genau zu planen gilt, will man nicht auf Herbergsbetten zurückgreifen müssen. Auch wenn Christiane sagt, die Herbergen wären das eigentliche Abenteuer der Lana, so verzichte ich gern dankend. Pilgerneulingen lege ich die lana nicht ans Herz. Spanienkenner und routinierte Pilger, die mehr Ruhe als Gesellschaft suchen, entdecken auf diesem Weg sicherlich viel Neues. Am Ende erlebt jede:r den Camino anders. Sogar mein Blog inspiriert den einen, es mir gleich zu tun, während es den anderen dazu veranlasst, sich doch lieber eine andere Route auszusuchen. Also egal, wie du dich entscheidest: Habe Spaß an dem, was du tust und mach den Camino zu deinem Weg. Ultreia!