München - Lindau

Vorworte

München - Lindau 

Ich habe ein neues Langzeitprojekt: den Jakobsweg von München bis nach Lindau laufen, Stückchen für Stückchen in nicht zusammenhängenden Etappen, gern mit (wechselnder) Begleitung. Die Idee dazu kam mir heute, am letzten Junitag im Jahr 2020, gleichzeitig dem letzten Tag des ersten Halbjahres. Bernardo fliegt heute für zwei Wochen nach Spanien, und da überlege ich mir natürlich, was ich an meinen Wochenenden anstellen möchte, was ich mit ihm vielleicht nicht unbedingt in Angriff nehmen würde. Nachdem ich vor anderthalb Wochen meinen ersten Megamarsch gemacht und 52 km am Stück gelaufen bin, habe ich Lust, wieder eine weitere Strecke zu laufen, abseits ausgetretener touristischer Pfade. Und so kam mir die Idee, eine Etappe eines der bayerischen Jakobswege zu laufen. Und wenn ich denn schon dabei bin: warum nicht der ersten Etappe weiteren folgen lassen? Der Vorteil dieser Strecke ist ja auch gerade, dass selbst Lindau von München aus bequem in 2 Stunden mit dem Zug erreichbar ist, so dass man diesen Jakobsweg ganz wunderbar häppchenweise serviert begehen kann.

 

Ehrlicherweise muss ich ja sagen, dass mein Weg gar nicht in München beginnt, sondern in Schäftlarn. Die Etappe München - Schäftlarn, eigentlich die erste Etappe des Weges, bin ich schon mehrfach mit dem Fahrrad abgefahren, in beide Richtungen, und im Rahmen meines Megamarsches auch großteils zu Fuß gegangen. Da ich mir wenig Neues davon verspreche, die gleiche Strecke erneut abzulaufen, beschließe ich kurzerhand, es mit der Streckenführung nicht so genau zu nehmen. Los geht es für mich also am Kloster Schäftlarn, wo ich mich am kommenden Samstag um 10 Uhr mit meinem camino-erfahrenden Chor-pal Jürgen treffen werde, um dann nach Kloster Andechs aufzubrechen. Die 27 km umfassende Strecke sollte bequem in 7 Stunden zu schaffen sein.

4.7.2020

Kloster Schäftlarn - Kloster Andechs - Herrsching (ca. 33 km)

Lange haben wir darüber gesprochen, nun machen wir es wahr: wir laufen gemeinsam ein Stückchen Jakobsweg. Jürgen hat sich durch meine caminos inspirieren lassen und irgendwann beschlossen, sich selbst auf den Weg zu machen. Mittlerweile ist er schon zwei Mal in Spanien unterwegs gewesen, was uns irgendwann mal auf die Idee brachte, gemeinsam zu laufen. Na und jetzt ist es so weit. Die Strecke ist ja nicht sooo lang, deswegen denke ich, dass sie auch dann gut zu schaffen ist, wenn man eine Weile nicht so aktiv war. (Corona-Monate liegen hinter uns, fast jeder hat Pfunde drauf gepackt.) So ist also auch ein bisschen Überzeugungsarbeit nötig, bis Jürgen einwilligt, die Strecke mit mir in Angriff zu nehmen. Überzeugend ist am Ende die Aussicht, dass er ja im Notfall einfach in Starnberg die S-Bahn nehmen kann, die ihn innerhalb weniger Minuten wieder nach Hause nach Tutzing bringt.  Aber erstmal treffen wir uns um halb zehn am Kloster Schäftlarn, so der Plan. Tatsächlich treffen wir uns bereits im Bus, der mich von der S-Bahn zum Kloster bringt.

 

Wo wir nun schon einmal am Kloster sind, schauen wir uns auch den Klostergarten an und werfen einen Blick in die Kirche, wo auch schon der erste Pilgerstempel auf mich wartet. Unvorbereitet habe ich mir im Vorfeld keinen Pilgerausweis bestellt, weshalb ich nun direkt in mein gelbes Büchlein stempele. (Zumindest den Reiseführer hab ich mir organisiert.) Nach ein bisschen Suchen und Hin-und-Her-Laufen finden wir nun auch den gegenüber liegenden Aufstieg zum Dorf. Es geht landschaftlich äußerst reizvoll durch kleine Dörfer, über Weiden, durch Wälder, und immer wieder denke ich mir, wir haben das Paradies unmittelbar vor der Haustür. Dass München mit einem großen Freizeit-Faktor gesegnet ist, war mir ja schon immer klar. Die Nähe zu den Bergen und den ganzen Seen sprechen für sich. Dass man aber darüber hinaus auch so schön jakobspilgern kann, erstaunt mich dann doch.

 

Wir plaudern über alles mögliche, am meisten natürlich über den Chor, tauschen Klatsch und Tratsch aus und lästern auch immer wieder fleißig. Am Starnberger See, dessen Uferpromenado erwartungsgemäß das nervigste Stück der Strecke wird, legen wir ein Päuschen ein, bevor es dann durch die Maisacher Schlucht wunderschön am Bach entlang weitergeht, rauf zum Maisacher See, wo wir noch ein Päuschen einlegen und uns ein Radler gönnen. Wieso bin ich noch nie hier gewesen? Seit 10 Jahren wohne ich in München und kenne nicht dieses Naherholungs-Kleinod - eine Schande!

 

Eine Gruppe von drei Jungs begegnet uns seit Starnberg immer wieder. Welche Wegführung die wohl nehmen? Sind sie erst in Starnberg losgelaufen? Dann sind sie aber spät dran. Wie Pilger sehen sie auch nicht aus mit ihren Tagesrucksäcken und den unpassenden Schuhen. Ihr Tempo ist ordentlich, ihr Bedarf an Pausen allerdings ebenso, so dass wir uns immer wieder gegenseitig überholen.

 

Irgendwann kommen wir in Andechs an. Das Kloster liegt auf dem Berg und Jürgen beschließt, nicht mit hoch zu kommen sondern direkt den Bus nach Tutzing zu nehmen. Die Wanderung hat ihn wohl geschafft. Er hat gut durchgehalten, allerdings hat es ihn an seine Grenze gebracht, meint er. Allein kämpfe ich mich also nach oben und treffe auf unsere drei Bekannten. Auf meine Frage erklären sie mir, sie laufen jedes Jahr einmal von München nach Andechs. Das war also ihre heutige Strecke, ca. 50 km, nicht schlecht.

 

Ich beschließe, das letzte Stück auch noch zu laufen, und so wandere ich durch das bezaubernde Kiental nach Herrsching, was ca. fünf km zusätzlich sind. Allerdings hätte ich mich sehr geärgert, wenn ich hier nicht langgelaufen wäre, denn es ist wirklich wunderschön hier. Auf dem Weg treffe ich nun immer mehr Tagestouristen und leider auch solche, die sich vor lauter Alkoholkonsum auf dem Heiligen Berg kaum noch auf den Beinen halten können. Ich überlege mir, noch ein Radler zu trinken,  hab aber irgendwie so gar keine Lust mehr, also setze ich mich in die nächste S-Bahn und fahre wieder nach Hause. Schön war´s!

15.8.2020

Kloster Andechs - Hohenpeißenberg (45 km)

Heute geht es wieder los! Nachdem Bernardo ein paar Tage zu seiner in Prag wohnenden Cousine gefahren ist, beschließe ich kurzerhand, meinen Jakobsweg fortzusetzen. Die Streckenaufteilung hat mich einiges an Kopfzerbrechen gekostet, denn es gibt zwischendurch nicht so richtig viele Übernachtungsmöglichkeiten. Letztlich entscheide ich mich für eine lange Strecke am ersten Tag und eine relativ kurze am zweiten. Dass die lange mit dem Aufstieg auf den Hohen Peißenberg endet, ist zwar blöd, aber nicht zu ändern. Ich werde es schon schaffen.

 

Los geht´s in der Früh dort, wo ich beim letzten Mal Jakobswegstechnisch gesehen aufgehört habe: am Kloster Andechs. Mit S-Bahn und Bus reise ich früh am morgen an, denn ich rechne mit ca. 10 Stunden reiner Wanderzeit. Habe ich vor anderthalb Monaten hier noch feierwütige Tagesausflügler getroffen, so sind es heute solide Kirchengänger. Ich habe mir Andechs beim letzten Mal bereits ausführlich angeschaut und mir meinen Stempel geholt, daher kann es heute direkt losgehen. Hinterm Dorf geht es knapp zwei Stunden durch den Wahl nach Pähl, home of Thomas Müller, dann etwas unübersichtlich weiter nach Raisting, wo ich vor über zehn Jahren mal als Spezialist eine Allianz-Agentur betreut habe. Heute laufe ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder daran vorbei und stelle fest, dass der Inhaber noch der gleiche ist. Vor allem hat Raisting eine sehr hübsche Kirche, in der ich mich ein paar Minuten ausruhe.

 

Weiter geht es in Richtung Wessobrunn. Die Streckenführung ist auch hier etwas undurchsichtig. Das Büchlein sagt, kurz nach Punkt A geht es rechts in den Wald. Wie weit ist "kurz"? In meiner Vorstellung maximal ein paar Minuten Gehzeit, also vielleicht ein paar hundert Meter. Stattdessen bin ich nach einer halben Stunde immer noch auf dem gleichen Weg und ziemlich sicher, die Abzweigung verpasst zu haben. Ich beschließe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit mich einfach querfeldein nach rechts durchzuschlagen, was sich als schlechte Idee erweist und mich mindestens 15 Minuten kostet, denn ich muss umkehren. Nun mache ich keine Experimente mehr sondern laufe einfach stur geradeaus weiter, solange bis mir Wegweiser etwas anderes sagen. Und tatsächlich werde ich kurze Zeit später auf einem deutlich breiteren Weg nach rechts geleitet. Es gibt sogar eine Jakobsmuschel!

 

Ein älterer Mann auf seinem Fahrrad fragt mich, ob ich pilgere. Jawohl. Dann läuft er ein bisschen mit mir mit! Ich habe vor einigen Minuten meine Wanderstöcke aus dem Rucksack geholt, auf dass sie mich unterstützen mögen. Und nun ein alter Mann, der sein Fahrrad neben mir herschiebt. Bergauf. Mal schauen, wie lange das gut geht. Keine zwei Minuten. Dann verabschiedet er sich, nicht ohne mir zu erklären, dass ich mir in Wessobrunn die Tassilo-Linde anschauen müsse.

 

Gegen 14 Uhr komme ich in Wessobrunn an und inspiziere neben besagtem Baum, dessen Stamm einen gigantischen Umfang hat, auch den Klostergarten, der wirklich wunderschön ist und mich ans Auenland der Hobbits erinnert. Monatelang bin ich jeden Tag hier vorbei gefahren und habe es nie hinbekommen, das Auto abzustellen und mir das Kloster anzuschauen! Aber so ist das ja meistens, wenn man irgendwo wohnt. Das Glasmuseum in Passau habe ich ja auch nie angeschaut.

 

Über Hügelchen und Felder geht es hinter Wessobrunn weiter in Richtung Hohenpeißenberg. Die Landschaft ist ein Traum. Und auch die Alpen sind schon deutlich näher gekommen. Zwischendurch fülle ich meine Wasserflaschen auf am Außenwasserhahn einer netten Familie irgendwo in der Pampa. Eine weitere beeindruckende Linde steht am Weg. Danach geht es kilometerweit schnurstracks gerade aus durch den Wald. Eine Frau fragt mich, wie weit ich schon unterwegs sei, denn meine Beine sähen sehr schwer aus. Sind sie auch, aber das letzte Stückchen werde ich nun auch noch schaffen. Und so kämpfe ich mich irgendwann den Hohen Peißenberg hinauf. Ca. 45 Minuten benötige ich für das Stückchen von vielleicht 1,5  km Länge. Oben werde ich zu Abend essen, habe ich beschlossen. Es ist eh schon nach 18 Uhr. Und die Aussicht von hier oben ist grandios.

 

Nach getaner Stärkung geht es auf der anderen Seite wieder hinab. Ich suche die Pension, bei der ich mich heute abend einquartieren werde. Ich bin der einzige Gast, verrät mir die Wirtin, daher kann ich mir überlegen, wann ich frühstücken möchte. Da es bereits 20 Uhr ist, werde ich mein Zimmer heute nicht mehr verlassen sondern, wie üblich auf Jakobswegen, frühzeitig ins Bett gehen und bald schlafen. Gott sei Dank ist die Strecke morgen kürzer.

 

16.8.2020

Hohenpeißenberg - Wieskirche (26 km)

Punkt 8 Uhr sitze ich am Frühstückstisch und bekomme all das, was ich am Abend zuvor bestellt habe. Da ich der einzige Gast bin, hatte ich die Auswahl. Okay, Spiegeleier gibt es dann doch nicht, aber jede Menge Obst und Jogurth. Eine Stunde später bin ich wieder unterwegs.

 

Nach ca. 2 Stunden erreiche ich die Ammerschlucht, ein absolutes Highlight dieses Jakobsweges. Endlich habe ich nun auch wieder meine Ruhe vor den ganzen Fahrrad-Ausflüglern, die mich gestern streckenweise schon genervt haben. Die Ammerschlucht ist mit dem Rad nicht befahrbar und auch zu Fuß muss man ganz schön aufpassen, wo man hintritt, um nicht auf der linken Seite in die Tiefe zu fallen. Ein Urwald ist das hier, kaum ein menschlicher Eingriff, der das natürliche Erscheinungsbild verändert. Sehr abenteuerlich!

 

Am anderen Ende der Schlucht erwartet mich eines der schönsten Klöster, das ich bisher besichtigt habe. Von außen macht es gar nicht viel her, aber innen, wow! Vielleicht liegt es auch daran, dass gerade ein Quartett bestehend aus Flöte, Harfe, Gitarre und noch einem Instrument, das ich nicht erkennen kann, übt und wundervolle Musik den Raum durchdringt. Ich setze mich ein bisschen auf eine der Kirchenbänke und genieße die Atmosphäre.

 

Wieder draußen entscheide ich mich gegen eine Biergarten-Pause sondern laufe direkt weiter. Laut Planung hätte ich allerspätestens um 13 Uhr hier ankommen müssen, um am Ende meinen Bus an der Wieskirche zu kriegen und wieder nach München zurück zu kommen. Und es ist 13 Uhr. Irgendwie klappt das mit meiner zeitlichen Planung nicht so recht. Entweder bin ich deutlich langsamer als sonst oder die Strecke ist weiter als im Buch steht. Ich laufe also weiter und stelle fest, dass mich die offizielle Streckenführung tatsächlich immer wieder anders führt als im Buch beschrieben. So muss ich nun einen großen Bogen schlagen, wo eine direkte Linie beschrieben wird. Da wundert mich nicht mehr, dass ich meinem Zeitplan hinterher laufe.

 

Wieder komme ich an einer sehr hübschen Kirche vorbei, die es hier so zahllos gibt. Innen sehen sie alle irgendwie gleich aus, da von den gleichen Künstlern gestaltet. Es lohnt sich wirklich, hier langzulaufen, von Kirche zu Kirche. Eine am Weg befindliche Kapelle verrät mir, dass es bis nach Santiago noch 2.577 km sind. 3 Monate weg, schätzungsweise. Aber ich befinde mich erstmal quasi auf der Zielgeraden zur Wieskirche.

 

Nach all den schönen Kirchen der letzten beiden Tage und vor allem der magischen Atmosphäre des Klosters Rottenbuch, muss ich gestehen, dass mich die Ankunft an der Wieskirche kalt lässt. Vielleicht sind auch die Unmengen an Touristen Schuld daran. So viele Menschen auf einen Fleck bin ich schlicht nicht mehr gewohnt an einem sakralen Ort. Ich schaue mal rein in die Wieskirche, suche den Pilgerstempel, hole mir am Kiosk noch ein schnelles Radler (für mehr ist keine Zeit mehr, denn ich bin erst nach 16 Uhr angekommen und gleich geht der Bus)  und fahre im Anschluss mit Bus und Bahn wieder zurück nach München. Fest steht für mich nun, dass ich den Jakobsweg nach Lindau nun auch bis zu Ende weitergehen möchte.

4.9.2020

Wieskirche - Bernbeuren (23 km)

Es geht weiter und zwar diesmal, Premiere, mit Bernardo! Mit Bahn und Bus geht es zurück zur Wieskirche, wo wir gegen 12 Uhr ankommen. Wieder fällt mir auf, wie nett die Busfahrer im Bayerischen Oberland sind. Dass die Haltestellen von einheimischen Kinderstimmen angekündigt werden, tut ein Übriges zum Wohlgefühl. Heute haben wir mit 23 Kilometern eine eher kurze Etappe, daher sehen wir keinen Grund zur Eile und essen erstmal gemütlich Mittag. Um 13 Uhr starten wir. Es geht direkt los über einen hübschen Holzpfad durch das Moor und dann weiter in Richtung Steingaden. Das Welfenkloster ist eine Wucht! Dummerweise findet darin gerade eine Trauerfeier statt, so dass wir nur einen Blick aus dem Eingangsbereich ins Innere des Kirchenraumes werfen können. Sehr schade. Wir drehen eine Runde, aber die Trauergemeinde lässt sich Zeit, und so beschließen wir letztlich weiterzuziehen.

 

Quer durch´s Dorf geht es über eine Anhöhe weiter. Die Aussicht ist der Wahnsinn! Wir machen Halt und kommen mit einem netten Ehepaar aus dem Osten (ich habe vergessen, woher genau) ins Gespräch, die froh sind, endlich wieder reisen zu können und sich in Anbetracht der unsicheren Lage wie so viele für Urlaub in Deutschland entschieden haben.

Hinter Urspring haben wir die Wahl, auf kurzem Weg gerade aus oder noch einmal quer durch´s Moor. Da wir schon mal hier sind, entscheiden wir uns für Letzteres. Leider verpassen wir den richtigen Abzweig und laufen nun durch den gesamten, zugegebenermaßen sehr schönen Wald, in unserem Ziel entgegengesetzter Richtung. Da wir nun ganz abgekommen sind von unserem Pfad, schlagen wir uns durch in Richtung Lech und laufen flussabwärts nach Lechbruck.  Hier ist es nun wirklich richtig schön! Mittlerweile ist es halb 5, unser Umweg hat uns gut Zeit gekostet. Da wir jetzt aber dringend eine Pause benötigen, entscheiden wir uns für einen Besuch der örtlichen Eisdiele und lassen es uns schmecken.

 

In einiger Entfernung sehen wir die Jakobskapelle exponiert am Berg. Da gehen wir lang! Zwar bedeutet das einen kleinen Umweg, aber heute haben wir ja eigentlich Zeit. Wenn man diesen Satz zu oft sagt, hat man am Ende des Tages allerdings auch keine mehr... Nun ja, wir entschließen uns dennoch für diesen Weg. Von einer weiteren hübschen Aussicht abgesehen hat uns dieser Abzweig allerdings keine neuen Highlights beschert, denn die Kapelle war abgeschlossen. Durch verschiedene Dörflein und Höfe geht es hoch und runter nun in den Endspurt nach Bernbeuren, was wir gegen 19 Uhr und damit 2 Stunden später als erwartet erreichen.

 

Wir haben uns einquartiert in einer Pension, die auf Booking keine sonderlich guten Referenzen hatte, aber sie ist einigermaßen preiswert und eben in Bernbeuren. Allzu viel Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten gibt es hier nicht. Die Pension wird geführt von zwei Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, die wirklich sehr bemüht sind, es uns so angenehm wie möglich zu machen. Man erkennt, wie die beiden versuchen, ihre Einnahmen in die Stück für Stück von statten gehende Renovierung des großen Bauernhauses zu reinvestieren. Am nächsten Morgen werden sie uns bitten, sofern alles in Ordnung war, eine wohlmeinende Bewertung abzugeben. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Frühstück hervorragend war. 

 

Zu Abend essen wir allerdings auswärts und drehen noch eine Runde durch das Dorf. Mittlerweile ist es dunkel, viel ist heute mit uns nicht mehr anzufangen und daher legen wir uns bald schlafen. Bernardo ist nach seinem ersten Tag als Neupilger ohnehin geschafft.

5.9.2020

Bernbeuren - Marktoberdorf (23 km)

Nach unserem tollen Frühstück machen wir uns an den Aufstieg durch die Feuerschlucht auf den Auerberg, beides laut Büchlein weitere Höhepunkte dieses Jakobsweges. Der Aufstieg bringt uns mächtig ins Schwitzen, aber die Aussicht vom Turm der kleinen Kirche lohnt angeblich die Strapazen. Endlich oben angekommen stellen wir fest, dass uns um Haaresbreite der Einlass in die Kirche verwehrt wird, denn dort findet in 15 Minuten eine Trauung statt. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Gestern die Trauerfeier im Welfenkloster, die uns die Besichtigung verhagelt hat, heute eine Trauung hier oben. Wir sollen doch ein Radler trinken, in ca. einer Stunde sei die Kirche bestimmt wieder auf. Wir überlegen kurz, entscheiden uns dann aber dagegen und beginnen stattdessen auf der Westseite den Abstieg. Jetzt schon so eine lange Pause zu machen passt nicht recht in unsere Tagesplanung. Und am Ende der heutigen Strecke müssen wir ja auch noch zurück nach München.

 

Im nächsten Dorf angekommen ist Mittagessenszeit. Mit Bernardo werden die Essenszeiten gut eingehalten. Wenn ich allein unterwegs bin, überspringe ich auch mal gern eine Mahlzeit oder esse einfach später. Aber Bernardo hat Hunger, also essen wir. Am Nebentisch sitzt ein Ehepaar, das ebenfalls das gelbe Büchlein dabei hat. Aus Glonn sind sie, östlich von München, und laufen diesen Weg ebenfalls in Etappen. Genau wie wir sind sie sehr angetan von den malerischen Kirchen, den tollen Aussichten und der ganzen Schönheit dieses Jakobsweges vor der Haustür.

 

Nach dem Mittagessen geht es nun auf ins Finale. Durch Wald und Wiesen laufen wir weiter, Marktoberdorf entgegen. Viel passiert nicht auf dieser Strecke und da sie relativ eben die meiste Zeit in Richtung Norden geht, ist sie landschaftlich nicht so abwechslungsreich wie beispielsweise der Vormittag. Irgendwann kommen wir am Schloss Marktoberdorf an und ich stelle fest, dass ich hier schon mal mit dem Chor ein Probenwochenende verbracht habe. Das hatte ich ehrlich komplett vergessen. Erst als ich an den Mauern entlang gelaufen bin, dachte ich mir: Hier stand ich doch schon mal mit Fluffy und dem jungen Gemüse auf Klassenfahrt. Witzig. 

 

Wir gehen in den Ort und essen noch ein Eis. Die Besitzer der Eisdiele sind Brasilianer, ein großes Hallo für Bernardo. Was sagt der eigentlich zu  seinem Jakobsweg? Haben ihm die beiden Tage gefallen? Mag er wieder mit? Es war schön, sagt er, und er würde sich grundsätzlich gern wieder auf den Jakobsweg machen, allerdings mit dem Fahrrad. Die Wanderei sagt ihm nicht so zu (außer wir gehen in den Bergen wandern). Besonders nervt es ihn bergab, wenn er mit dem Rad in Nullkommanichts unten wäre, zu Fuß dauert es aber eine gefühlte Ewigkeit. Daher: es war eine schöne Erfahrung, aber noch mal mag er nicht mit. Und wie geht es mir damit? Sehr gut, denn ich stelle fest, dass ich den Jakobsweg tatsächlich am liebsten allein laufe. So schön es war, es ist dennoch nicht das gleiche. Von dem her war es eine gute Erfahrung, die nächste Etappe laufe ich dann aber wieder allein. Wann es so weit ist, weiß ich noch nicht. Jetzt geht es erstmal zurück nach München.

30.7.2021

Marktoberdorf - Görisried (25 km)

Heute geht es endlich weiter! Die Idee dazu wurde sehr kurzfristig geboren: Am Montag in der Chorprobe haben mich meine camino-erfahrenen Mitsänger Jürgen und Alfred gefragt, ob ich Lust hätte, mit Ihnen gemeinsam Anfang September nach Lindau zu laufen. Ursprünglich wollten die beiden einen Teil des camino del norte machen, haben sich aufgrund rasant steigender Inzidenzen allerdings dagegen entschieden, Spanien zu bereisen und bleiben stattdessen auf dem Lindauer Jakobsweg, den sie innerhalb einer Woche ab Andechs laufen wollen. Da ich ja nun bereits die Hälfte der Strecke absolviert habe, entscheide ich mich dafür, in Kempten einzusteigen und den Rest der Strecke mitzumarschieren. Das verschafft mir außerdem die Möglichkeit, von Marktoberdorf aus die Alternativroute nach Kempten zu laufen. Diese ist zwar 12 km länger, soll laut Reiseführer aber landschaftlich ganz besonders reizvoll sein. Ich plane für die Route 2 Tage ein, inklusive Hin- und Rückreise nach München. Und da ich die Etappe gern machen möchte, bevor wir gemeinsam nach Lindau wandern: Wieso nicht gleich am kommenden Wochenende starten? Ein Blick in die booking-App zeigt mir, dass für mich noch ein Einzelzimmer in einem hübschen Gasthof in Görisried verfügbar ist. Also nehme ich den Freitag frei und starte los.

 

Beide Tagesetappen sind mit ca. 25 km nicht übermäßig lang, weswegen ich es auch nicht allzu eilig habe, den frühen Zug nach Marktoberdorf zu kriegen. Ich nehme den ersten, bei dem ich nicht umsteigen muss und komme um 11:10 Uhr an. Ich laufe direkt zurück in die Fußgängerzone, wo mir das Studium der Strecke verrät, dass der Jakobsweg quasi am Bahnhof vorbei führt, weshalb ich nun auf einer Parallelstraße wieder zurück laufe, bevor ich dann das erste Muschelzeichen entdecke. Nachdem ich die Stadt hinter mir lasse, geht es vorbei am Ettwieser Weiher zur Kindle Kapelle, bei der ich Rast mache und mein mitgebrachtes Salami-Brötchen esse. Die Kapelle ist eine lebendige Wallfahrtsstätte, wenn man Fürbitte für das Wohl der Kinder halten möchte, was eine Reihe von Kleidungsstücken und Fotos direkt neben der Kapelle beweisen. 

 

Dann geht es weiter, meist in der prallen Sonne, entlang einer Staatsstraße. Ich überlege, ob es eigentlich in Deutschland auch eine "Staatsstreichstraße" gibt. Das Wort an sich ist ein ziemlich Zungenbrecher. Die Gedanken fließen, ich bin im Camino-Flow. 

 

Im Örtchen Wald besuche ich die sehr hübsche Dorfkirche. Anders als in den meisten Kirchen sind hier die Seitentreppen hoch auf die Emporen nicht abgesperrt. Ich klettere also auf die zweite Empore und schaue mir die Orgel aus der Nähe an. Nebendran stehen Nasenspray und Tempotaschentücher, der Organist leidet an Heuschnupfen.

Beim Verlassen des Ortes in Richtung Wertach überlege ich noch, ob meine Wasservorräte ausreichend sind. Da die Außenfassade des Dorfladens gerade renoviert wird, erschließt sich mir nicht auf den ersten Blick, wo genau der Eingang sein soll, also entscheide ich mich dagegen, mir noch etwas zu trinken zu kaufen sondern wandere weiter. Die Wertach führt Hochwasser, aber der Weg flussaufwärts ist gut passierbar. Nach ca. 2 Km geht es steil bergauf und mein Wasser wird nun wirklich langsam knapp. Eine vorbeikommende Frau mit Kinderwagen sagt mir, dass es erst in Görisried wieder einen Edeka gibt. Naja, denke ich mir, zur Not fülle ich meine Flasche mit Leitungswasser bei freundlichen Bauern auf. Am Ende werde ich mit meinem Vorrat auskommen, aber nur dank strenger Limitierung.

 

Das Highlight des Tages ist die wackelige Hängebrücke über die Wertach. Um diese zu erreichen muss ich allerdings noch eine Kuhfamilie passieren, die mitten auf dem Weg campiert und mich anglotzt. Seitdem mal ein Bulle auf mich losgegangen ist und ich mich nur den Hang hoch retten konnte, habe ich einigermaßen Respekt vor diesen Tieren, besonders wenn Jungtiere dabei sind. Kühe sind auch definitiv kein Teil des Streichelzoos. Diese hier lassen mich zum Glück friedlich passieren, was bestimmt auch daran liegt, dass ich Ihnen im Singsang beruhigend zurede: "Hallo ihr lieben Kühe! Lasst mich einfach vorbei, ich tue euch nichts und ihr tut mir nichts." Es wirkt. 

Die Brücke ist wie gesagt echt wacklig. Wie man da mit Fahrrad drüber kommen soll, ist mir ein Rätsel. Ich brauche beide Hände, um mich festzuhalten. Ein Selfie in der Mitte treibt mir den Schweiß auf die Stirn und ich habe Angst, das Handy ins Wasser fallen zu lassen oder selbst rein zu plumpsen, schaffe es aber trockenen Fußes mit Handy auf die andere Seite. Von nun an sollte es nicht mehr weit sein bis zum Gasthof. Noch einmal führt mich der Weg über eine Kuhweide. Gegen 17 Uhr bin ich am Ziel. Bevor ich allerdings mein Domizil betrete, mache ich Stopp beim Edeka und kaufe mir drei Liter Wasser. 

 

Das Personal des Gasthofs ist ausgesprochen freundlich. Ich beziehe mein Zimmer und beginne damit zu erkunden, warum es hier so nach Kuhmist stinkt. Liegt es eventuell einfach daran, dass ich auf dem Land bin? Da ich die Quelle eher bei mir selbst vermute, mache ich unter der Dusche erstmal meine Schuhe sauber. Wahrscheinlich ist der Marsch über die Kuhweiden schuld. Zum Trocknen stelle ich die Schuhe außen auf die Fensterbank und steige nun selbst unter die Dusche. Schicht für Schicht wird der Gestank runtergespült und am Ende dufte ich wieder ganz bezaubernd. Nun kann ich mich wieder nach unten begeben und essen. Im Gasthof "Zum Hirsch" ist ein Hirsch-Gericht fast Pflicht. Ich lasse es mir zunächst auf der Terrasse schmecken, bevor das Gewitter naht und die gesamte Gästeschar nach innen drängt. Beim Nachtisch und dem dritten Radler schaue ich noch ein bisschen Staatsoper.tv und gehe dann ins Bett, ohne den Fernseher noch einzuschalten. Heute war ein schöner aber auch anstrengender Tag.

31.7.2021

Görisried - Kempten Bahnhof (26 km)

Das Wetter ist etwas umgeschlagen nach dem Gewitter. Gestern hatte es noch 30 Grad, heute ist es deutlich kühler und es sieht nach Regen aus. Die Regenjacke bleibt heute ganz oben im Rucksack, man kann ja nie wissen.

 

Hinter Görisried geht es zunächst über Felder und dann hinein in den Kempter Wald. Hier sieht es aus wie im Harz. Ich erinnere mich, dass ich 2012, als wir vom Chor aus in Edinburgh waren, mit meinem besten Freund Stefan auf der Autofahrt von Inverness zur Isle of Man einen kleinen, gar nicht ernst gemeinten Disput darüber hatte, ob die schottische Landschaft seiner Allgäuer oder meiner Südharzer Heimat mehr ähnelt. Heute sehe ich, Teile des Allgäus sehen aus wie der Harz, wir hatten beide recht, Klärung der Frage nach neun Jahren.

 

Nach ca. anderthalb Wegstunden treffen sich die beiden Wegalternativen. Voller wird es deswegen nicht, weder gestern noch heute habe ich andere Jakobspilger entdeckt. Es geht teilweise schnurgerade durch den Wald. Es ist schon meditativ, dieses Einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzen. Meine Gedanken schweifen umher und ich laufe einfach. Camino-Feeling. Abgesehen von einer kleinen Waldkapelle ist die Strecke zwar sehr schön, aber nicht sonderlich spannend. Ich denke an Jürgen und Alfred, die die Strecke von Marktoberdorf nach Kempten ja an einem Tag laufen wollen. Ich glaube, wenn ich am Ende eines Wandertages diese langen Wege hätte, würde ich schon ein bisschen fluchen. Sagen werde ich nichts, bin aber glücklich damit, die Alternative gelaufen zu sein, denn die war landschaftlich wirklich schön.

 

Wenn man in die nächste größere Stadt einläuft, ist das Erlebnis immer irgendwie gleich. Man sieht die Stadt schon erscheinen, denkt sich, weit kann es ja nun nicht mehr sein, und dann läuft man trotzdem noch 2 Stunden, bevor man endlich da ist. So ist es auch diesmal. In Kempten treffe ich nun den ersten Pilger. Er ist den direkten Weg gelaufen, es geht also doch in einer vernünftigen Zeit. Ich laufe durch das sehr hübsche aber hoffnungslos überfüllte Stadtzentrum. Es ist in diesen mittelgroßen Städten immer das gleiche: Am Samstag kommt das gesamte Landvolk angefahren, um bei H&M einkaufen und bei McDonald´s essen zu gehen. Die Einkaufs-Tages-Touristen füllen die Straßen dermaßen, das es wirklich keine Freude ist. In Passau war es samstags auch immer so und vermutlich ist es in der Kaufinger Straße in München gerade noch viel schlimmer. Ich verzichte jedenfalls auf ausgiebiges Sightseeing, in einem Monat bin ich ja eh wieder hier, drehe noch eine Runde und nehme gegen 17 Uhr den Zug zurück nach Hause. Am nächsten Tag werde ich mit meinen Gedanken immer noch ganz auf dem Weg und im Wald sein. Erstaunlich, was so eine kleine Jakobswegs-Auszeit bewirken kann...

2.9.2021
Kempten - Weitnau (34 km)

Gestern Nachmittag bin ich mit dem

Zug nach Kempten angereist und habe mich im gleichen Hotel wie Alfred und Jürgen, meine beiden Wegbegleiter der nächsten Tage, einquartiert. Nach einem gemeinsamen Vorabendessen starten wir heute unsere erste gemeinsame Jakobswegsetappe zu dritt. Nachdem wir den Ort einmal durchquert haben, geht es direkt schweißtreibend bergauf. Heute, Donnerstag, ist der erste Sommertag in dieser Woche. Die beiden Jungs hatten bisher eher weniger Glück mit dem Wetter. Dafür klettert das Thermometer heute gleich wieder ordentlich hinauf und wir mit ihm. Wie üblich ist die Streckenführung nicht eindeutig gekennzeichnet und auf Christiane, die Autorin des Pilgerführers, kann man sich nicht immer verlassen. Daher gehen wir oben angekommen eher der Nase nach, was uns abführt vom Jakobsweg. Dank alternativer Wegweiser gelangen wir letztlich aber doch wieder hinab ins nächste Örtchen. 


Nach einer ausgedehnten Pause an der Bushaltestelle wandern wir auf asphaltiertem ehemaligen Gleisbett und heute Radweg langsam weiter bergauf. Auf Radwegen zu laufen ist langweilig und tut nach einer Weile auch den Füßen weh und so sind wir froh, als wir in Buchenberg ankommen, wo wir Mittag essen. Da mich die Wanderung mächtig hungrig gemacht hat, haue ich rein und bekomme direkt ein schlechtes Gewissen, als die beiden nur einen Salat bestellen und alkoholfrei bleiben. Dafür bin ich nun aber bestens gerüstet, denn die verbleibende Strecke ist noch lang. 


Sie ist sogar sehr lang, nämlich 16 Kilometer laut Christiane, und es geht nach einem angenehmen Stück durch den Wirklinger Wald hinauf auf den Sonnengrat. Immer wieder machen wir Pausen, die mir persönlich zu zahlreich und zu lang erscheinen. Aber so ist das eben, wenn man in Gesellschaft pilgert. Zwischendurch dudelt aus einem Handy der neue ABBA-Song. Und weil er so schön ist, gleich nochmal. Ich bin ja nicht ihr größter Fan, kann die Lieder eigentlich nur deshalb einigermaßen mitsingen, weil kein Chor-Wochenende ohne sie auskommt. Beim Wandern mitten im Allgäu brauche ich ihre Musik nun aber wirklich nicht. 


Von den versprochenen herrlichen Ausblicken bekommen wir hier oben wenig mit, denn alles ist zugewachsen. Immer wieder biegen links Wegalternativen nach Weitnau ab. Christiane hat uns allerdings davor gewarnt, zu früh abzubiegen, da die Routen nicht wirklich schneller, dafür landschaftlich unattraktiver da in Straßennähe seien. Also bleiben wir hier oben. Es ist schon nach 18 Uhr, als wir endlich zu unserem ersehnten Abstieg kommen und nun gehen wir kilometerweit bergab. Gegen 20 Uhr laufen wir endlich in unserer Pension ein und bekommen von den Wirtsleuten sogleich geschimpft. Sie hätten nicht gewusst, ob wir überhaupt noch kommen würden. Warum wir denn nicht angerufen hätten.


Unsere Pension ist äußert skurril, beherbergt neben uraltem Landhaustüll jede Menge Porzellan-Puppen und allerlei Absurdes, ist zudem seltsam geschnitten und bunt bemalt. Zu essen gibt es hier allerdings nichts und so machen wir uns auf den Weg zur einer Gaststube am nahegelegenen Sportplatz, in der ein bestens gelaunter Wirt uns Pizza und Radler serviert. Wir sind froh und dankbar, noch etwas Essbares um die Zeit gefunden zu haben und machen uns gesättigt auf den Weg zu unserer Nacht im Museum.

3.9.2021
Weitnau - Lindenberg (34 km)

Zum Glück habe ich nicht alles gesehen, was in diesem Bauernhaus ausgestellt wird, ich hätte sonst aus Angst vor zum Leben erwachten Puppen in Brautkleidern kein Auge zugetan. 


Beim Frühstück kommen wir mit den heute sehr zugänglichen Wirtsleuten ins Gespräch. Sie erzählen uns, dass es neben dem in unseren Buch beschrieben Weg noch eine Alternative gibt. In älteren Ausgaben wurden beide Routen beschrieben, heute fehlt die ursprüngliche. Da der Wirt aber noch ein Exemplar hat, studieren wir beide Varianten: die südliche (von Christiane beschriebene) Route ist empfehlenswerter, wenn man sich für die Milch-Käse-Produktion interessiert. Die nördliche, nicht erwähnte, ist landschaftlich reizvoller und auch etwas kürzer. Spontan entschließen wir uns für die Verlegung unserer Route. 


Jürgen hat gestern bereits angekündigt, heute allein laufen zu wollen. Mir kommt das recht, denn Alfred und ich haben ungefähr ein ähnliches Tempo. Nachdem wir die Landkarte abfotografiert haben, gehen wir also los in Richtung „Eistobel“, was auch immer das sein soll. Die Streckenführung haben wir nur teilweise verstanden. Wenn man die Umgebung nicht kennt, sind allzu viele Details sowie ähnlich klingende Ortsnamen eher verwirrend. Der breite Allgäuer Dialekt hat zum besseren Verständnis auch nichts beigetragen. Ortsauswärts versuchen uns die Muscheln wieder auf die südliche Route umzuleiten. Wir lassen uns davon nicht beirren sondern wandern weiter in Richtung Westen. 


Nach weniger als zwei Stunden erreichen Alfred und ich zunächst eine Burgruine und kurz danach den Eistobel, eine wilde Bergbach-Landschaft mit Wasserfällen, ähnlich einer Klamm. Sehr beeindruckend und sehr voll. Wir gehen den Weg einmal komplett ab, circa 1 Kilometer Länge wird das sein, und dann wieder zurück, denn um auf den Jakobsweg zu gelangen müssen wir wieder dahin zurück, wo wir den Eistobel betreten haben. Fast oben angelangt treffen wir auf Jürgen, der soeben hier angekommen ist und dem das alles viel zu viel Trubel ist. Zu dritt begeben wir uns in Richtung Ausgang und machen alsbald wieder eine Pause, eingeläutet durch das pure Vorhandensein einer Bank. Ich beschließe kurzerhand, hier nicht zu ruhen, sondern direkt weiterzulaufen. Die beiden schauen mich verdutzt an. Da ich heute Abend mangels Kapazitäten in Weiler in einem anderen Ort übernachte und daher 5 Kilometer mehr Wegstecke habe, lassen sie mich letztlich ziehen. 


Der Weg geht nun steil bergauf, zumindest vermute ich das, denn ob ich hier richtig bin, weiß ich nicht. Oben hat man nun wirklich eine schöne Aussicht und weit und breit ist kein Mensch. Ich orientiere mich an der Himmelsrichtung, denn Muscheln oder Pfeile hab ich schon länger keine mehr gesehen, dann geht es bergab in den nächsten Ort. 


Nun hab ich mein bisschen schlimmstes Jakobswegserlebnis: ich werde Zeuge eines Unfalls zwischen LKW und Motorrad, setze den Notruf ab und halte mich noch eine knappe Stunde am Unfallort auf, falls jemand meine Aussage benötigt und um meine Nerven zu beruhigen. Ich rufe erst Bernardo und dann Jürgen und Alfred an, die irgendwann kommen, und wir beschließen letztlich, weiter zu laufen. Was sollen wir auch sonst tun. Der Rettungshubschrauber kündigt sich auch schon an. 


Die nächsten zwei Stunden laufen wir noch unter dem Eindruck meines Schocks. Dann machen wir eine Pause vor einem Milchbauernhof, und es kündigt sich an, dass sich unsere Wege für heute bald wieder trennen werden. Alfred und Jürgen wandern weiter nach Weiler, ich selbst nach Lindenberg zu meinem Hotel direkt am Waldsee. Die letzten Kilometer führen mich teilweise an einer stark befahrenen Straße entlang und die Eindrücke des Erlebten machen mir den Magen flau, letztlich komme ich aber doch noch gesund und müde in meinem Hotel an. Das Fräulein fragt mich, ob ich mit dem Auto oder etwa dem Fahrrad hier sei. Zu Fuß, antworte ich, und sie schaut mich ungläubig an, sagt aber nichts. Später esse ich hervorragend zu Abend und gehe früh zu Bett. War ein anstrengender Tag heute.

4.9.2021
Lindenberg - Lindau (26 km)

Da ich gestern weiter gelaufen bin, kann ich heute länger schlafen. Mindestens eine Stunde Wegzeit spare ich mir heute, bei dem Tempo der beiden Jungs eher anderthalb. Als mir Jürgen schreibt, dass sie jetzt losgehen, begebe ich mich in den Frühstücksraum und trödele vor mich hin. Heute habe ich den Schock des gestrigen Tages wieder ganz gut verdaut. Vermutlich sollte ich genau zum Zeitpunkt des Unfalls vor Ort sein um den Notruf abzusetzen. Deshalb war es gut, keine Pause an der Bank am Eistobel einzulegen, sonst wäre ich nicht da gewesen als ich gebraucht wurde, um zwischen Rettungsstelle und Ersthelfern Fragen und Informationen weiterzugeben.


Am See vorbei führt mich der Weg und hinein in den Wald und später hinab zur Wendelinkapelle mit Blick auf den Bodensee im Hintergrund. Ein grandioser Ausblick! An einem Gehöft vorbei kommend frage ich die zwischen Rindvieh arbeitende Bäuerin, ob mein Respekt vor Kühen begründet ist. Ihrer Ansicht nach sind die Tiere eher neugierig. Wenn ein Wanderer daher kommt, wollen sie wissen, was los ist. Ansonsten bräuchte man keine Angst zu haben. Außer sie haben Junge, dann ist Vorsicht angebracht.


In Niederstaufen, dem nächsten Ort, lasse ich mich nach erfolgter Besichtigung vor der Kirche nieder und warte auf meine beiden Weggefährten, die kurz danach eintrudeln. Die Suche nach einem Restaurant bleibt erfolglos, also laufen wir weiter. Es geht nun tendenziell immer bergab, denn wir befinden uns quasi auf der Zielgeraden. Da die verbleibende Strecke kurz ist, bin ich tiefenentspannt mit den Pausen. Wir essen lecker Kuchen und laufen dann weiter. 


Die letzten Kilometer vor Lindau haben Ähnlichkeit mit der Strecke vor Logroño auf dem camino francés. Dann beginnt das übliche Asphaltschlendern, bis wir endlich die Brücke überqueren und auf der Insel Lindau ankommen. Zu unserer Ankunft läuten die Kirchenglocken. Wir herzen und drücken uns und nicht alle Augen bleiben trocken. Wir haben es geschafft, der Jakobsweg München - Lindau ist erfolgreich gemeistert. 


Wir genehmigen uns ein Gläschen, dann noch eins. Nachdem wir in unserem Hotel eingecheckt sind, gehen wir Abendessen, drehen noch eine Runde zum Leuchtturm und trinken noch einen Absacker. Morgen Mittag fahren wir dann wieder zurück nach München. 


Was bleibt mir als Fazit? 


Der Lindauer Jakobsweg ist einer der schönsten überhaupt! Direkt vor der Haustür gelegen werde ich sicherlich immer wieder hierher zurück kehren, um die ein oder andere Etappe erneut zu laufen. 


Da ich nun Gelegenheit hatte, mehrfach in wechselnder Begleitung zu wandern kann ich sagen, dass ich doch am liebsten allein unterwegs bin. Mit Bernardo kann ich weitere Jakobswege ziemlich sicher ausschließen. Einzelne Etappen kann ich wunderbar in Gesellschaft bewältigen, alles darüber hinaus wird schwierig. Ich bin meinen eigenen Rhythmus (moderat zügiges Tempo, wenig Pausen) gewöhnt und es fällt mir schwer, davon abzuweichen.


Vor über einem Jahr hatte ich den Entschluss gefasst, den Lindauer Jakobsweg in Angriff zu nehmen, nun ist er geschafft. Aber Lindau ist nicht Santiago, daher werde ich mir als nächstes Ziel den Schweizer Jakobsweg setzen. Das Büchlein ist schon unterwegs und ich bin sehr gespannt. Sagen zu können, man ist von München nach Santiago gelaufen, das wäre doch mal was. Mal schauen, wann es weitergeht. Ich freu mich schon drauf.