Isar-Loisach-Weg - von Wolfratshausen nach Mittenwald

29. April 2018

Wolfratshausen - Benediktbeuern (30 km)

Der Jakobsweg beginnt vor der eigenen Haustür.
Irgendwann im Sommer letzten Jahres habe ich mich zum ersten Mal mit der Idee beschäftigt, den Jakobsweg quasi von der Haustür aus zu laufen. Das Projekt wurde zwar erst mal zugunsten des Camino inglés zurück gestellt, aber die Idee war geboren. Besonders charmant fand ich neben der geografischen Nähe auch die Tatsache, dass ich diesen Weg in Etappen gehen könnte, immer mal wieder ein kleines Stückchen, mal für ein verlängertes Wochenende wandern und dann mit dem Zug wieder nach Hause fahren. Und nun sitze ich in der Sbahn von München nach Wolfratshausen und fahre meinem Jakobsweg entgegen. Der Entschluss, heute loszufahren kam recht spontan, vor etwa zwei Wochen, denn zum einen ist Bernardo gerade in Madrid und zum zweiten regt mich mein Job gerade dermaßen auf, dass ich dringend eine kleine Auszeit brauche inklusive Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts. Also habe ich die Jakobsmuschel an den Rucksack gebunden, das nötigste eingepackt und nun geht es los.

Anders als auf den spanischen Jakobswegen, wo ich mich in allerschönstem Gottvertrauen darauf verlassen konnte, am Wegesrand schon ein Bettchen in einer Herberge, einem Hostal oder einem hübschen Hotel zu finden, habe ich mangels günstiger Übernachtungsmöglichkeiten an deutschen Jakobswegen meine Übernachtungen schon vorher gebucht. So wusste ich, dass ich mich auch bei Wind und Wetter auf den Weg machen würde und dass mich mein Weg heute bis nach Benediktbeuern führen wird, wo ich mir ein Einzelzimmer im Kloster reserviert habe. So entsteht wenigstens partiell echtes Camino-Feeling. Das Wetter ist jedenfalls toll. 25 Grad, und das Ende April! Besser als erwartet.

Am Bahnhof Wolfratshausen muss ich erst mal die Maps-App öffnen, um überhaupt auf den Jakobsweg zu kommen. Noch schnell einen Zwischenstopp an einer Tanke einlegen und mich mit dem nötigsten Proviant versorgen und weiter geht´s. Der Weg führt über eine Brücke schnell raus aus dem Ort, am Kanal entlang zur Loisach. Und schon fällt mir auf, dass die Beschilderung bei Weitem nicht so idiotensicher ist wie in Spanien. Zwar gibt es hin und wieder Wegweiser, die mit "Jakobsweg" bezeichnet sind, aber generell werde ich während der nächsten beiden Tage mehr der Beschilderung des Radweges folgen. Und auch meistens auf diesem entlang laufen.

Wie das Radwege so an sich haben, führen sie selten durch verschlungene Trampelpfade sondern meistens direkt an der Straße entlang. Da heute Sonntag ist, sind die Straßen wenigstens nicht sonderlich stark befahren (außer von Motorrad-Kolonnen). Dafür ist auf den Radwegen umso mehr los. Permanent werde ich von Radlern überholt. Fußgänger sehe ich keine. Keine! Offenbar bin ich der einzige Fußpilger, der heute auf dem Jakobsweg unterwegs ist. Stattdessen krakelt ein vorbeiziehendes älteres Ehepaar: "Des is fei a Radlweg!" Nein, das ist der Jakobsweg, denn kann man auch zu Fuß gehen, möchte ich ihr hinterher rufen, entscheide mich dann aber dafür, mich in guter Pilgermanier an innerer Gelassenheit zu üben.

Aber nicht alle Radler zeigen sich ignorant ob der Strecke, auf welcher sie wandeln. "Ultreia!" ruft ein netter Mann von seinem Mountainbike herunter. Und dann passiert es sogar, dass eine Frau mittleren Alters stehenbleibt und absteigt, um mit mir ein paar Minuten gemeinsam zu laufen, während ihr Mann langsam weiter radelt. Das nenne ich mal Solidarität! Auf dem Camino Portugués ist sie schon gepilgert, berichtet sie mir. Und sie will unbedingt wieder mal hin. Eine hübsche kleine Begegnung, die vielleicht zwei Minuten dauert. Dann verabschieden wir uns und wünschen uns gegenseitig "buen camino". Hahaha, wie tief verinnerlicht wir diesen Gruß doch haben...

An kleinen Weihern vorbei führt der Weg an Penzberg vorbei und hier endlich darf ich den Radweg wieder verlassen, um nun tatsächlich entlang der Loisach zu wandern und mich an der wunderbaren Natur zu erfreuen. Wie nah die Berge mittlerweile sind!

So langsam bekomme ich Hunger. An einem Gutshof, an dem scheinbar alle Radlfahrer ihr Mittagsmahl einnehmen, bin ich vorbei, weil ich die 500 Meter Umweg bergauf nicht auf mich nehmen wollte. Außerdem habe ich keine Lust, mich unter´s Volk zu mischen, sondern genieße lieber weiter meinen einsamen Pilgerweg. Eine Weggabelung, der Jakobsweg geht in zwei unterschiedliche Richtungen. Huch? Ich entscheide mich für die linke Wegalternative und latsche weiter, nun wieder auf Asphalt und in der prallen Mittagssonne. Zum Umkehren ist es nun zu spät und wer weiß, ob der rechte Weg auch der bessere gewesen wäre.

Endlich komme ich an einem Wirtshaus vorbei, das direkt am Wegrand liegt. Und es gibt sogar noch einen freien Tisch! Ein bisschen Stühlerücken und schon sitze ich im Schatten. Nun abseits genug entschließe ich mich, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und ernte dafür schräge Blicke. Mir aber egal. Außerdem spüre ich, dass sich eine Blase ankündigt. So ein Mist! Auf 800 Kilometern Camino francés hatte ich keine Blase und hier geht es schon los. Bestimmt ist das den doppellagigen Jakobswegs-Socken geschuldet, die ich mir im Internet bestellt habe und heute erst zum zweiten Mal trage. Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Blasenpflaster habe ich zu Hause vergessen und eine geöffnete Apotheke finde ich heute ganz sicher nicht. Ich werde schon durchhalten.

Was sehe ich: dort laufen ja tatsächlich zwei Pilgerinnen! Die ersten, denen ich begegne. Ich gönne mir ein Radler (wie bezeichnend) und esse einen Müsliriegel, und 30 Minuten später bin ich wieder auf dem Weg. Es dauert nicht lange, dann erreiche ich tatsächlich die beiden Pilgerinnen. Sie wollen heute auch noch nach Benediktbeuern und sich ein Zimmer im Kloster nehmen. Gebucht haben sie es noch nicht. Na dann aber schnell, denn das Kloster schließt um 15 Uhr. Für die verbleibenden ca. vier Kilometer haben sie noch ungefähr 45 Minuten Zeit. Selbst für mich wäre das eine Herausforderung. Die beiden Damen laufen maximal halb so schnell wie ich. Und jetzt müssen sie sich erst mal ausruhen. Na ob das noch was wird? Ich zweifele stark daran, sage aber nichts, gehe weiter und sehe die beiden danach nicht wieder.

Da ich mein Zimmer schon reserviert habe, bin ich nicht an Öffnungszeiten gebunden sondern habe einen Code für den "Nachtpförtner" erhalten. Obwohl ich es noch gerade pünktlich 14:50 Uhr schaffe, ist die Rezeption nicht mehr besetzt. Die Putzfrau zeigt mir netterweise, wo ich meinen Schlüssel finde und bringt mich sogar noch in das Gebäude, in dem mein Zimmer ist. Das nenne ich Service!

Jetzt erst mal duschen, denn nach 30 Kilometern in nicht mal sechs Stunden bin ich recht durchgeschwitzt und brauche auch dringend etwas Ruhe. Barfuß spüre ich die Blase nun deutlich. Eine kleine Runde durch die große Klosteranlage mit all ihren Kunstobjekten (ich entdecke sogar ein Faksimile von Orffs Carmina Burana), ein paar Fotos machen und dann begebe ich mich in den Kloster eigenen Biergarten. Der ruhige Teil des Tages hat begonnen, ich esse lecker Spargel und danach noch einen Topfenstrudel mit Vanillesoße, trinke zwei Radler, drehe noch eine kleine Runde und gehe um 20 Uhr auf mein Zimmer. Für heute habe ich genug.

 

30. April 2018

Benediktbeuern-Kochel-Walchensee-Wallgau-Mittenwald (43 km)

Pünktlich um 7 Uhr sitze ich beim Frühstück, und bin der erste Gast. Das ändert sich aber schnell und der kleine Raum füllt sich mit Radfahrern (was auch sonst). Draußen regnet es leicht. Mal schauen, wie es heute wird. Das Wetter soll heute angeblich nicht so gut werden wie gestern, außerdem ist Montag, zwar Brücken- aber kein Feiertag. Ich lasse es auf mich zukommen. 

Mit Fleece und Regenjacke geht es los Richtung Kochel. Der Weg führt mich durch eine wundervolle Heidelandschaft, erst entlang der Bahnstrecke, bis ich irgendwie falsch abbiege und mitten in Wald und Wiesen bin. Durch ein ausgetrocknetes Flussbett laufe ich querfeldein in die Richtung, in der ich Kochel vermute. Die Berge dienen als recht guter Wegweiser. Wirklich verlaufen kann ich mich nicht. Sensationell, wie frisch es hier duftet. Es ist u.a. dieser vertraute Geruch von morgendlicher Frische und Nässe, der mich auf vorangegangenen Jakobswegen immer begleitet hat. Ich bedaure alljene, die dieses Erlebnis vielleicht nie erfahren werden, weil sie Couchpotatos oder Langschläfer sind. In der Ferne ist ein gigantischer Regenbogen zu sehen. Der Regen hat mittlerweile aufgehört und die Sonne tastet sich durch die Wolkendecke. Mir ist so warm geworden, dass ich erst Regenjacke, dann die lange Jogginghose und letztlich den Fleece im Rucksack verstaue.

In Kochel angekommen führt der Weg durch kleine Seitengassen bergauf. An einer Apotheke komme ich so sicherlich nicht vorbei, dafür ist der Weg schön und läuft geradewegs hoch zum Kochelsee mit dem schönen Bergpanorama im Hintergrund. Was für ein Anblick. 

Nun geht es bald wieder raus aus dem Ort und steil bergauf. Da ich hier schon mal gewandert bin, habe ich eine gute Orientierung, in welcher Richtung es weitergehen müsste. Vor allem müsste es bergab gehen, aber der Weg führt weiter und weiter nach oben Richtung Herzogstand. Da will ich aber nun wirklich nicht hin! Bei dem Pensum, das ich mir heute auferlegt habe, ist auch schlichtweg keine Zeit für Extrarunden. Ich beschließe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit links abzubiegen, Richtung Walchensee. Ich laufe dann zwar nicht mehr direkt auf dem Jakobsweg, aber das ist letztlich ziemlich egal. Gesagt getan finde ich mich innerhalb von 20 Minuten auf der am See entlang führenden Landstraße wieder. Na gut, zumindest kenne ich mich wieder aus.

Die Sicht auf den See ist einfach atemberaubend. So zuckele ich etwa zwei Kilometer vor mich hin. Hinter mir nehme ich Stockgeklapper wahr. Ich lasse die ältere Dame, die ein sagenhaftes Tempo an den Tag legt, vorbei. "Megamarsch-Vorbereitung?" (oder so was in der Art) fragt sie mich. Nein, Jakobsweg. Ach so. Lucie bereitet sich auf ihre Teilnahme an einem 24-Stundenmarsch von Schäftlarn nach Mittenwald vor. Nicht schlecht! Deshalb gibt sie also so viel Gas. Meine Motivation ist da eine ganz andere, mir geht es um Entschleunigung. Den Jakobsweg, den Camino Primitivo, ist sie auch schon gelaufen und hätte es nie für möglich gehalten, dass die Leute dort wirklich ganz anders sind als im wahren Leben, so relaxt und entspannt und überhaupt einfach nett zueinander. Ich solle mich nicht wundern, sie biegt gleich rechts ab, denn sie will eine Kaffeepause machen, bitte nicht persönlich nehmen. Keine Sorge, und falls sie nichts dagegen hat, würde ich mich gern anschließen. Aber gern doch! Wir unterhalten uns nett, fachsimpeln ein bisschen, ich erzähle ihr von meiner mangelhaften Ausstattung mit Erste-Hilfe-Utensilien und schon bekomme ich ein Blasenpflaster von ihr geschenkt. Sie findet es eh immer am tollsten, wenn sie diese Sachen verschenken kann, weil sie sie selbst nicht braucht. Am Ende lasse ich mir von der wenig pfiffigen Bedienung noch meinen Stempel in meine Credencial geben - den ersten ihres gesamten Lebens, da sie erst beim Chef nachfragen musste - und dann machen Lucie und ich uns wieder auf den Weg. Da ihre Streckenführung anders verläuft als meine, trennen sich unsere Wege nun wieder. Wir drücken uns und jeder zieht von dannen, sie voraus, ich trotte in immer größer werdendem Abstand hinterher.

Nun beginnt der mit Abstand schönste Teil meiner bisherigen Strecke, direkt am See entlang auf einem Waldweg, der eine im See liegende Halbinsel umrundet. Vorbei geht es an einer winzigen Kirche und dann an der südlichen Seite der Halbinsel entlang in Richtung Einsiedl. Ganz wunderschön ist es hier, und der Anblick der schneebedeckten Berge hinter dem türkisblauen Wasser des Walchensees ist einfach atemberaubend!

Nun geht es wieder bergauf, auf einem Rad-/Waldweg, der mich stark an den Weg durch die Dörfer zwischen Camino Duro und O Cebreiro erinnert. So langsam verlässt mich die Lust und ich fange schon an zu bereuen, mich nicht in Wallgau einquartiert zu haben. Den 30-minütigen Umweg über einen Wasserfall spare ich mir, für solche Extratouren habe ich keine Zeit. Die Kilometerangaben auf den Schildern verfolge ich nun ganz genau und ärgere mich jedes mal, wenn dort steht: "Wallgau: 45 Minuten" und 10 Minuten später wieder "Wallgau: 45 Minuten". Wollt ihr mich verarschen?

Aber auch die längsten 45 Minuten sind irgendwann zu Ende und ich erreiche tatsächlich Wallgau. Was für eine Kulisse! Auf einem Hochplateau gelegen offenbart sich hier der traumhafteste Blick auf die Alpen bisher, auch die Hochalpen sind zu sehen. Ich nehme auf einer kleinen Bank Platz und pausiere lang und angemessen, insgesamt viel zu kurze 45 Minuten. Danach schlendere ich in Richtung Kirche, da gibt es bestimmt wieder einen Stempel für meine Credencial. Die Stempel sind übrigens immer gleich: eine Jakobsmuschel und in der Mitte steht senkrecht der Name des Ortes. Für Kreativität und Vergleiche á la "Wer hat den schönsten" ist kein Platz auf diesem Jakobsweg.

Wieder bedaure ich, mich nicht in diesem hübschen Ort niedergelassen zu haben, denn erstens ist Wallgau wirklich idyllisch, und zweitens sind es noch neun Kilometer bis Mittenwald und ich hab schon jetzt keine Lust mehr. Außerdem geht es schon auf 17 Uhr zu. Vor 19 Uhr komme ich heute wohl nicht an in Mittenwald. Der Jakobsweg führt nun auf große Wiesen und ich denke mir schon, hach ist das hübsch hier. Doch schon nach wenigen Metern lotsen mich die Schilder wieder raus aus dieser Idylle, schnurstracks auf´s nächste Dorf zu. Ich will da nicht hin! denke ich mir und überlege mir schon, einfach weiter über die Wiesen nach Mittenwald zu pilgern. Aber das wäre ja dann nicht mehr der Jakobsweg. Und warum wohl führt mich dieser zurück ins Dorf? Wegen der Kirche. Und dort bekomme ich zumindest meinen nächsten Muschel-Stempel. Na gut, dann mal los.

Einen weiteren Stempel später geht es nun auf in den Endspurt. Seit langem komme ich nun wieder an die Isar. Ehrlich gesagt bin ich durcheinander gekommen mit den ganzen Flüsschen und Bächlein. Was war jetzt was? Und bin ich tatsächlich immer nur an der Loisach entlang gelaufen? Oder war da auch was anderes? Keine Ahnung, ich werde es mir bei Gelegenheit mal auf Google-Maps anschauen. Der Weg nach Mittenwald führt dann wieder auf einem Radweg entlang. So schließt sich der Kreis. Aber die Streckenführung ist nun viel schöner, führt mal direkt an der Isar entlang und immer mitten durch die Berge.

Ich muss Oma anrufen! Weil ich weiß, dass ich einmal im Hotel angekommen darauf sicherlich keine Lust mehr haben werde, greife ich gleich zum Telefon und so begleitet mich Oma auf meinen letzten Kilometern. Wo das Hotel ist weiß ich schon, denn das habe ich bei meinem letzten Stopp hier extra gesucht, um heute Zeit und Umwege zu sparen. Hoffentlich haben sie ein hübsches Hotel-Restaurant mit Biergarten, denn das Gebäude noch mal zu verlassen, darauf habe ich heute keine Lust mehr. Dort angekommen herrscht reges Treiben an einem aufgebauten Buffet, das von Dutzenden grauen Herrschaften bevölkert wird. "Wir haben heute bayerischen Abend mit Livemusik!" freut sich der Rezeptionist mir mitteilen zu können. Na das hat mir ja gerade noch gefehlt. Gibt es denn eine ruhige Alternative für Soziophobiker? Denn Humtata verkrafte ich heute nicht mehr. "Die Straße runter jede Menge." Also doch noch mal raus. Unter die Dusche, umziehen, und dann rein in die nächste Pizzeria, in der ich die beste Calzone meines jungen Lebens verdrücke. Danach schlendere ich weinselig und bettschwer zurück zum Hotel.

Morgen wird es über Schloss Elmau und die Partnachklamm zurück nach Garmisch-Partenkirchen gehen, wo ich gegen Abend den Zug zurück nach München nehmen werde. Mein Ausflügchen auf dem Jakobsweg ist allerdings für´s Erste wieder beendet. Schade. Aber schön war´s!