Camino Mozárabe (1. Versuch): von Granada nach Córdoba (statt Mérida) (177 km)

Vorfreude

Nun steht es fest: nicht im Norden werde ich als Nächstes pilgern gehen, nicht in Santiago einlaufen, keine weitere Compostela wird meine Wände schmücken. Nachdem mich meine letzten vier Caminos immer irgendwann nach Galizien geführt haben, werde ich diesmal Andalusien und die Extremadura durchlaufen. Der Camino portugués, den ich als letztes gepilgert bin, war einer der schönsten Caminos, aber beim Einlaufen in Santiago dachte ich: schon wieder hier. Für meine verbleibenden Tage hatte ich keinen Plan, denn Neues habe ich mir nicht versprochen, weder von Finisterre noch von den nicht gezogenen Alternativen. Daher ist es nun an der Zeit, andere Teile Spaniens kennenzulernen, den Süden zum Beispiel. Und da ich schon immer mal die Alhambra besuchen wollte, werde ich meinen nächsten Camino in Granada beginnen.

 

Der Camino mozárabe ist laut Reiseführer ein extrem einsamer Weg. Vom bekannteren Via de la Plata (ab Sevilla) weiß ich, das man nur wenige Pilger trifft. Auf dem Mozárabe ist es noch stiller. Es kann vorkommen, dass dir während des ganzen Tages kein einziger Pilger über den Weg läuft. Für die gut 400 Kilometer habe ich zwei Wochen eingeplant, plus jeweils einen wanderfreien Sightseeing-Tag in Granada, Córdoba und Mérida. Die Etappen sind ziemlich starr vorgegeben: 20 Kilometer bis zur ersten Überachtungsmöglichkeit, 25 bis zur nächsten, so geht das bis Córdoba die ganze Zeit, was in der ersten Wanderwoche vor die Wahl stellt: kleinere Etappen oder riesige. Da es in Andalusien eine Reihe von Festungen zu besichtigen gibt, fällt die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Ruhig und entspannt wird es also losgehen, ab Córdoba werden die Etappen dann länger. Aufgrund der Infrastruktur ist es ratsam, auch die Hostals im Voraus zu buchen, sonst steht man am Ende doof da. Da ein großer Teil meiner Vorfreude darin besteht, alles zu planen und vorzubereiten, habe ich bereits 80% meiner Pensionen gebucht. Auf dem portugués bin ich mit meiner vorausschauenden Planung gut gefahren. Außerdem entspannt es mich zu wissen, wo ich die Nacht verbringen werde. Weiterhin bereits gebucht sind der Hinflug, das Ticket für die Alhambra sowie der Transfer von Mérida nach Lissabon, wo ich am Ende der Reise Bernardo treffen und noch paar gemütliche Tage verbringen werde.

6.3.2020
München - Barcelona - Granada

Heute geht es los! Nachdem meine Countdown-App seit 2 Monaten mehrmals täglich bemüht wurde und jedes Mal emotionslos weiter runterläuft, zeigt sie heute null Tage, 4 Stunden und ein paar Minuten bis zum Abflug an. Der Flug geht um 9:50 Uhr aber bereits um halb sieben weiß ich daheim nichts mehr mit mir anzufangen, so dass Bernardo zu mir sagt: Geh endlich zur S-Bahn, was ich alsbald auch tue. Der Flieger steht eine gute Stunde nach der geplanten Abflugzeit immer noch auf dem Rollfeld und ich bin froh, dass ich genügend Umsteigezeit in Barcelona eingeplant habe. Also eigentlich hatte ich die Wahl zwischen 40 Minuten oder 5 Stunden. Ich hab mich für die zweite Alternative entschieden, da es in Barcelona einen sehr hübschen Flughafen-Innenhof gibt mit Bar, Sitzbänken und Pipapo. Dort werde ich es mir gemütlich machen, ein bisschen lesen und vielleicht ein Bier trinken.

 

Wenn man Urlaubslektüre jeden Tag von A nach B schleppen muss, denkt man pragmatisch. Nicht das Buch, worauf man eigentlich am meisten Lust hätte, es zu lesen, kommt in den Rucksack, sondern eines, das möglichst wenig wiegt. Meine Wahl fällt auf „Samba tanzt der Fußballgott“, ein mittelkleinformatiges Büchlein mit immerhin 300 Seiten, das beim direkten Vergleich jeweils zweier Bücher, eines in der linken, das andere in der rechten Hand, den Gewichtsvergleich wieder und wieder gewinnt. Das Buch ist ein Abriss der brasilianischen Fußballgeschichte. Weder bin ich ausgewiesener Fan des Ballsports, noch tue ich mich durch irgendein Expertenwissen hervor. Der Umstand, dass ich Abseits und den (hoffentlich ist nicht der Plural zutreffend) Auslöser für Eckball zu erklären in der Lage bin, erfüllt mich schon mit ein bisschen Stolz. Dass es das Büchlein in mein Regal geschafft hat, ist lediglich dem Umstand zu verdanken, dass ich es vorletztes Jahr bei unserer Chor-Weihnachtsfeier beim Schrott-Wichteln gewonnen habe. Und da es nun mal in meinen Besitz gelangte, lese ich es auch. Ich muss sagen: es lohnt sich! Die Kapitel zu den historischen Wurzeln sind ebenso kurzweilig geschrieben wie die Lebensläufe von Stars wie Pelé und Ronaldinho. Während des Fluges und der zweieinhalb Stunden im Hof schaffe ich es sogar bis auf Seite 195. Gut, dass ich noch ein zweites, noch kleineres Buch mitgenommen habe. Aber auf das hatte ich allerdings auch noch weniger Lust: "Der Vorleser".

 

In der Sonne ist es echt warm! Nach und nach lege ich erst den Fleece, dann den Longsleeve und schließlich auch die langen Hosenbeine ab, so dass ich in T-Shirt und kurzer Hose rumsitze. Der Flug nach Granada ist wie jeder typische spanische Inlandsflug: laut! (Was ist das mit den Spaniern, dass das Handy immer auf maximaler Lautstärke laufen muss?) Aber er geht pünktlich, wir kommen sogar vor der Zeit in Granada an. Da ich kein Gepäck aufgegeben habe, muss ich nicht warten. Der Flughafen ist genauso winzig wie der in Oviedo. Es gibt eigentlich nur einen nennenswerten Raum und einen Ausgang. Den nehme ich und dort stehen die Busse. Nachdem die Leute mit dem Gepäck kommen, füllt sich der Bus rapide, und wir starten in Richtung Zentrum. Nach kurzer Suche finde ich das Hotel, gehe noch mal vor die Tür, um mir den Bauch vollzuschlagen und nun liege ich im Bettchen, gucke Let‘s Dance - ja, es gibt RTL! - und schlafe sicher bald. Morgen muss ich früh raus, denn um 10 Uhr bin ich mit der Alhambra verabredet.

7.3.2020
Granada 

Jetzt kommen die Früchte! Seit halb 8 sitze ich beim Frühstück, weil ich einfach nicht mehr schlafen konnte und jetzt, vierzig Minuten später, wo ich eigentlich fertig bin und keinen Hunger mehr habe, jetzt kommen die Früchte!

 

Stell dir vor du bist in der Alhambra und niemand ist da. Um neun Uhr war der Aufstieg abgeschlossen, ich war bereit für den Rundgang durch die einzige, komplett erhaltene islamische Palastanlage der Welt. Da mein Zutritt für die Palacios Nazaries - der Teil der Alhambra, für den man ein vorgegebenes Zeitfenster zugewiesen bekommt - erst für 10 Uhr ausgestellt war, hab ich mit meiner Tour ganz vorn in der Alcazaba angefangen, wo außer mir tatsächlich nur eine Handvoll Leute waren. Idyllischer und gleichzeitig besonderer kann man in einen Samstagmorgen kaum starten. Im Palacio Nazaries hingegen konnte ich das ganze Ausmaß der touristischen Attraktivität der Alhambra erleben. Man tritt sich buchstäblich auf die Füße, wenn man denn durchkommt. Aber nichts desto trotz: die Detailarbeit in der maurischen Bauweise ist wirklich sensationell, der Besuch absolut lohnenswert! Ich bin ja nicht so der große Museumsgänger, weshalb ich mir, nach weiterem Aufstieg zu den Gärten und anschließender Rückkehr zum Palast Carlos V (glaub ich) sämtliche sonstigen Indoor-Museen geschenkt habe. Nach drei Stunden hatte ich auch einfach keine Lust mehr auf noch mehr Alhambra, und habe deshalb meinen Abstieg angetreten.

 

Mein nächstes Ziel war das Kloster Madres Comendadoras de Santiago, quasi der Startpunkt des Camino Mozárabe, wenn man in Granada und nicht in Almería startet, und ausstellende Behörde meines ersten Stempels. Zwar musste ich zweimal klingeln, bis mir eine Schwester aufgemacht hat, aber letztlich wurde mir Einlass gewährt, und nach kurzem Warten hatte ich meinen Stempel. Um gleich das Programm komplett zu machen, bin ich in Anschluss zur Kathedrale und habe mir die große Audioguide-Tour gegönnt. Danach war die Zeit gekommen für eine kleine Siesta.

 

Nach einer kurzen Rast bin ich nun wieder auf dem Weg zu den Aussichtspunkten über die Stadt. Nach zwei Mal fragen habe ich eine grobe Vorstellung, wo ich langgehen muss, um zu der Kirche auf der höchsten Stelle der Mauer zu gelangen, die man auf der gegenüber liegenden Stadtseite von der Alhambra aus sieht. Mein Weg führt mich zudem durch die Höhlenhäuser, von denen ich kürzlich im Fernsehen etwas gesehen habe. Aussteiger haben es sich in den Höhlen häuslich eingerichtet, ich glaube zwar ohne Strom oder fließend Wasser, aber dort leben sie. Ein bisschen plemplem scheinen zumindest Teile von ihnen aber schon zu sein. Der irre Blick, den mir einer von ihnen aus seinem, naja, Vorgarten heraus zuwirft, als ich mich bei ihm versichern will, ob ich noch auf dem rechten Weg bin, macht mir ein mulmiges Gefühl und ich überlege kurz, mir einen anderen Aufstieg zu suchen, der nicht da durch geht. Aber ich bleibe standhaft und komme irgendwann oben an.

 

Ich liebe es ja, mir querfeldein Zugang zu den schönsten Aussichtspunkten zu verschaffen. In Barcelona hab ich so den höchsten Punkt des Parc Güell für mich entdeckt, wo man wirklich nur sehr wenig Gesellschaft fürchten muss. Hier oben ist das anders. Es ist wie ein Ausflugsziel der Einheimischen inklusive Parkplatz nach hinten raus. Ungestört ist was anderes, also setze ich mich nach nicht allzu langer Zeit wieder in Bewegung. Mein Ziel ist ein weiterer Aussichtspunkt, den ich vor vier Jahren mit Bernardo kennengelernt habe. Mit meinem spektakulären Ausblick von ganz oben aus kann der allerdings nicht mehr ganz mithalten, außerdem ist es abartig voll. Ich ziehe also weiter und entdecke eine kleine Placita, wo ich mich niederlasse und ein Bier trinke. Zwei weitere Bier- bzw. Tinto-de-verano-Stopps später komme ich wieder im Hotel an. Da ich zudem für jedes Bierchen eine Tapa in Form eines kleinen Sandwiches, eines Schüsselchens Suppe oder eines Schälchens Nüsse bekomme, bin ich ziemlich satt, ohne wirklich etwas gegessen zu haben. Mal schauen, ob ich heute überhaupt noch Abend esse...

8.3.2020
Granada - Pinos Puente (ca. 20 km)

Zu laufende Kilometer laut Buch: ca. 20

Gelaufene Kilometer laut App: 18, aber ich habe die App auch erst nach einer halben Stunde eingeschaltet...

Getroffene Pilger: 3

 

Heute Morgen geht es mir gar nicht gut, und das Frühstück trägt leider auch nichts zu meinem Wohlbefinden bei, obwohl die Früchte gerade serviert werden, als ich um 8:15 Uhr runter gehe. Irgendeine Tapa von gestern hat mir vermutlich auf den Magen geschlagen. Nach dem Frühstück lege ich mich noch mal eine Stunde ins Bett in der Hoffnung, dass es mir danach besser geht. Aber mein Magen bleibt den ganzen Tag plümerant. Ausgerechnet heute...

 

Gegen halb 11 räume ich das Zimmer und setze mich in Bewegung, nicht ohne vorher noch eine Rolle Klopapier aus dem Bad im Rucksack zu verstauen. Vielleicht ist das der Sinn, denn bisher habe ich immer in meinem ersten Hotel Klopapier für den camino mitgehen lassen, und diesmal hätte ich es um ein Haar vergessen. Auch wenn ich es äußerst selten gebraucht habe, gibt es doch ein gutes und beruhigendes Gefühl.

 

Mit dem Büchlein in der Hand geht es los. Der camino mozárabe ist zwar gut ausgeschildert, aber man muss wissen, wo man nach den gelben Pfeilen suchen muss. Will heißen, der Weg ist nicht durchgängig gekennzeichnet, sondern nur, wo es Alternativen gibt. Da es immer wieder mehrere hundert Meter geradeaus geht, hat man eigentlich permanent das Gefühl, einen Pfeil übersehen zu haben und nun falsch zu laufen. Aber abgesehen von einem Stück in Atarfe, wo mich die Pfeile tatsächlich verlassen haben und ich einmal quer durch‘s Dorf geschlendert bin, bis ich wieder auf dem rechten Weg war, habe ich dem camino mit Hilfe des Büchleins und der Pfeile sehr gut folgen können.

 

Der Weg heute dient in erster Linie dem Ziel, raus aus der Stadt zu kommen. Es geht links, rechts, über die Gleise, links, über die Autobahn, geradeaus an den Lagerhallen vorbei, durch die Unterführung und so fort. Unterwegs überhole ich ein älteres Päarchen und werde meinerseits von einer ebenso älteren Frau überholt. Doris aus der Nähe von Mainz. Sie macht Urlaub mit ihrem Mann, aber da er nicht mehr gut zu Fuß ist, läuft sie allein und ihr Mann sammelt sie am Ende des Tages ein und bringt sie zurück ins gemeinsame Hotel. Wir plaudern ungefähr 2 Minuten, dann entdecke ich eine Bar, die ich mir aufgrund der sanitären Möglichkeiten nicht entgehen lassen möchte. Für den Rest des Tages wandere ich allein.

 

Da meine alten Wanderschuhe ihre besten Zeiten schon längst hinter sich haben, habe ich mir neue gekauft. Und auch gleich neue Socken, denn die alten lösen sich schon auf. Heute bekomme ich die Quittung, denn die erste Blase kündigt sich an. Gott sei Dank ist es nun nicht mehr weit bis zum Ziel. Das Büchlein veranschlagt für die 20 Kilometer 7 Stunden. Ich rechne mit maximal 5, wenn ich gemütlich gehe. Gegen drei, maximal halb vier sollte ich da sein. Tatsächlich laufe ich Punkt 15 Uhr in meinem Hostal ein.

 

Mir ist permanent kalt in den Zimmern, da sie nicht beheizt werden. Dieses hier hat wenigstens eine Lüftung, so dann man die Temperatur hochstellen kann. Ich stelle sie auf 25 Grad (Maximaltemperatur) und lasse mir parallel ein heißes Bad ein. Nachdem ich soweit wieder aufgeheizt bin, gehe ich nach unten, trinke ein Bier, und da die Küche erst um 20 Uhr öffnet, bestelle ich mir ein Schinken-Käse-Sandwich zum Abendessen. Ich kann nicht mehr warten, habe ich doch seit heute morgen nichts mehr zu mir genommen. Während zu meiner linken ein extrem unerzogener Hund alles und jeden ankläfft, versuche ich der Live-Übertragung der Masnadieri aus der Bayerischen Staatsoper zu lauschen, die Bayern Klassik überträgt, während ich diese Zeilen schreibe.

9.3.2020
Pinos Puente - Moclín (19 km)

Gegangene Kilometer laut App und Büchlein: 19

Getroffene Pilger: 3 von gestern plus 1 neuen auf dem Weg plus nochmal 2 neue in Moclín, die ich aber gestern schon im Restaurant gesehen habe

 

Ich habe ganz wunderbar geschlafen, bis halb 8. Beim Frühstück treffe ich das Päarchen von gestern wieder. Mario und Kraina (?) aus Holland. Wusste ich es doch. Zwei ganz nette Menschen, sie sagt immer „Sie“ zu mir, meint es aber glaub ich gar nicht so. Selbstverständlich spreche ich sie zuerst auf Englisch an, aber beide antworten in einem sehr guten Deutsch, dann bleiben wir eben beim Deutsch. Wir unterhalten uns kurz über den Preis meines Einzelzimmers (25 Euro) und andere Pilger in ihrer Herberge (zwei Deutsche), dann gehe ich auschecken und die zwei trinken ihren Kaffee zu Ende. Die zwei haben auch mein deutschsprachiges Büchlein dabei und wollen bis nach Mérida laufen. Hab ich schon mal erwähnt, dass Holländer meine Konstante zu sein scheinen auf all meinen Caminos?

 

Im Zentrum des Dorfes steigt gerade Doris aus ihrem Auto aus und winkt mir zu. Ab der Kirche gibt es zwei verschiedene Wegalternativen. Eine geht ziemlich eben, die andere über Hügel durch Olivenfelder und ist 1 Kilometer länger. Wir wollen beide die längere Variante gehen, und sie fragt mich, wo der Abzweig ist. Ich checke mein Handy und versichere ihr, wir müssten erst noch gerade aus gehen. Pustekuchen. Ein paar hundert Meter weiter checke ich erneut und stelle fest, wir hätten schon längst rechts abbiegen müssen. Ich laufe quer durch die Gassen, um wieder zurück zu kommen, und das schlechte Gewissen quält mich: hätte ich nicht doch den gleichen Weg zurück laufen müssen, um Doris auch Bescheid zu geben?

 

Es geht Kilometer um Kilometer durch Olivenfelder, immer auf einer kaum befahrenen Asphaltstraße entlang. Während der ca. drei Stunden, die ich hier entlang laufe, kommen mir vielleicht fünf Autos entgegen, ansonsten bin ich allein. Das typische Gefühl der Camino-Glückseligkeit erfasst mich. Mitten auf der Strecke steht plötzlich der Hund von Baskerville neben mir, und ich erschrecke mich ordentlich (was macht so ein Riesenhund, überhaupt irgend ein Hund, alleine hier??), aber ansonsten ist es ruhig und ich bin allein. Das ändert sich auch nicht, als ich durch das Dorf Berbe Alto laufe, einer Ansammlung von vielleicht einem Dutzend Häuser, allesamt - wenn auch in einem unterschiedlichem Stadium - dem Verfall preisgegeben. Einige sind zwar noch halbwegs intakt, aber die Rollläden sind heruntergelassen, der Putz bröckelt allenthalben und Schilder mit der Aufschrift „Prosegur“ soll vortäuschen, dass es hier eine Alarmanlage gibt, damit sich niemand unerlaubterweise Zutritt verschafft. Andere Häuser sind schon halb eingestürzt. Eines dieser aussterbenden Dörfer. Ich sehe keine Menschenseele und das, obwohl neben der kleinen Straße zwei Feuer brennen. Ich bin mir sicher, dass allein die intensive Sonneneinstrahlung mich davor bewahrt, von blutrünstigen Zombies attackiert zu werden. Ein gruseliges Dorf.

 

Bis nach Olivares, wo es hoffentlich eine Bar gibt, ist es nun nicht mehr weit. Sämtliche mühsam geschrubbten Höhenmeter werden nun wieder zunichte gemacht, denn es geht pausenlos bergab. Aber im Dorf gibt es tatsächlich eine Bar, auf der Terrasse sitzen 3 Leute und schauen mich an. Ich grüße nett, da nennt mich doch tatsächlich einer der drei bei meinem Namen. Hat der vielleicht meine Posts auf Instagram gesehen, oder wieso kennt der mich? Tatsächlich ist es Steve, bei dem ich heute ein Zimmer gebucht und mit dem ich gestern Abend noch kurz zu den Details meiner Ankunftszeit gechattet habe. Er dachte sich, er probiert es einfach mal, entweder ich bin es, oder ich bin es nicht. Und ich war es. Ich setze mich zu den drei Exil-Engländern an den Tisch und trinke einen Kaffee. Und wer läuft keine 10 Minuten nach mir ein: Doris, die den richtigen Abzweig offensichtlich doch noch gefunden hat. Ich entschuldige mich und rate ihr, nicht mehr auf mich zu hören. Zwei mal hat sie mich nach dem Weg gefragt, zwei mal war meine Antwort falsch.

 

Die letzten 3 Kilometer geht es steil bergauf, daher hole ich vorsorglich schon mal meine Stöcke aus dem Rucksack. Im Schneckentempo schleiche ich mich nach oben und brauche für die Strecke eine gute Stunde. Allerdings gibt es auch viele Aussichtspunkte und ich teste sie alle. Überholt werde ich dabei von Diego aus Italien, der heute in Granada gestartet und seit sechs Uhr unterwegs ist. Ich muss ja echt sagen, dass ich die relativ kurzen Etappen gar nicht schlecht finde. Man kann länger schlafen und hat nachmittags noch genug Zeit, sich das Dorf anzuschauen. So wie heute, wo ich zwei Stunden lang auf der (eigentlich abgesperrten) Burgruine rumsitze, nachdem ich mir wie üblich meinen Weg durch Gestrüpp und Dickicht bis ganz nach oben gesucht habe.

 

Heute ist Montag, daher sind alle Bars zu. Also im Fall von Moclín alle beide. Ich hole mir noch ein paar Bananen als Abendessen und gehe zurück in mein Zimmer, wo ich mir im Fernsehen noch ein bisschen Corona-Virus-Panik anschaue. Morgen ist auch wieder ein Tag zum Feiern. Und ganz vergessen habe ich zu erwähnen, dass ich erstens mein holländisches Päarchen auf dem Rathausplatz wiedergesehen habe und - hilfsbereit wie ich nun mal bin - für sie mit dem Taxifahrer telefoniert habe, der heute morgen Krainas Rucksack in einer Herberge abgegeben hat. Aber sie konnten nicht rauskriegen in welcher, daher musste jemand den Taxifahrer anrufen. Und ich hab die beiden Deutschen kennengelernt. Florian und Wanja, bissl einfältig alle beide aber nicht verkehrt. Morgen laufen sie noch mal mit, dann ist ihr Mini-Camino zu Ende und sie fahren nach Süden ans Meer. So, das war es jetzt aber (glaub ich).

10.3.2020
Moclín - Alcalá la Real (24 km)

Gelaufene Kilometer: 24

Unterwegs getroffene Pilger: Null

Unterwegs getroffene kläffende Hunde: Dutzende!

 

Punkt neun bin ich mit einem Riesensandwich im Rucksack, das mir die mopsige, bar-tendernde Dorfschwuppe mit ihren eigenen Händen liebevoll zubereitet hat, und 3 Litern Flüssigkeit im Gepäck, losmarschiert. Die nächste Bar ist ca. 12 Kilometer weit weg, daher heißt es Vorsorgen. Es geht kilometerweit runter, sehr angenehm zu laufen, dann an der Straße 2 Kilometer nach oben, sehr unangenehm zu laufen, und dann quer durch ein Olivenfeld weiter teilweise steil bergauf. Nicht angenehm, aber immerhin auch nicht ohne Abenteuergehalt. Irgendwann, nach knapp 3 Stunden, kommt dann auch das erste Dorf in Sicht. Eine ganze Horde von Hunden heißt mich auf‘s Lauteste Willkommen. Die meisten sind zum Glück gut verräumt.

 

Als wäre immer noch Montag, hat die Bar geschlossen, aber die nächste ist ja schon fast in Sichtweite, nur 2 Kilometer soll sie weg sein. Doch auch dort: cerrado. Grundsätzlich wäre das alles ja halb so wild, auch wenn es sich mit einem frischen Koffeinschub schlichtweg besser läuft. Aber ich brauche meine Bars deshalb, weil sie mich gemahnen, Pausen einzulegen. Keine Bar, keine Pause, und ich nehme es vorweg: die 24 Kilometer bin ich in fünfeinhalb Stunden nonstop durchgelaufen. Zudem ist es heute so heiß, dass ich mein Halstuch umfunktioniere zum Coolpack: in kaltes Wasser getaucht und um den Nacken gelegt hält es die Sonne ab und kühlt den bereits entstandenen Sonnenbrand ganz wunderbar. Seit dem camino francés habe ich das nicht mehr gemacht...

 

Der Weg geht weiter durch Felder und an Olivenplantagen vorbei, ohne besondere Vorkommnisse, abgesehen von einer geänderten Wegführung, die mich mindestens 20 Minuten zusätzlich gekostet hat. Da die Sonne heute wirklich runter brennt, empfinde ich die Etappe deutlich härter als gestern, obwohl mir das Büchlein wenig Anstrengung versprochen hat. Gegen 15 Uhr bin ich endlich in meinem Hotel.

 

Nachdem ich geduscht und soweit regeneriert bin, mache ich mich auf, um die Festung zu erkunden. Die Frau an der Turi-Info meint, ich solle mich beeilen, denn die Festung schließt um sechs und man braucht zwei Stunden für die Besichtigung. Oben angekommen versichert mir die entzückende Kassendame allerdings, wenn ich nicht mit dem Auto da bin, ist alles völlig entspannt. Außerdem ist dienstags ab 15 Uhr der Eintritt frei. Ich bin begeistert.

 

Die Burg ist den Besuch mehr als wert! Die Anlage ist riesig, überall sind archäologische Ausgrabungen im Gange, weswegen man zwar nicht alle Bereiche betreten kann, aber was man betreten kann, ist die Wucht. Überall wurde trittfestes Glas über tiefer liegende Räume, Brunnen, was auch immer gelegt, so dass man von oben beste Einblicke bekommt. In den verschiedenen Teilen der Anlage finden sich themenspezifischen Informationen zum Leben im Dorf, während der Zeit des Islam, zum Alltag der Kirchenangehörigen und, und, und. Ganz zu schweigen von der grandiosen Aussicht, die man in alle Himmelsrichtungen genießt. Obwohl ich ohne Audioguide unterwegs bin und auch die Infotafeln wenn überhaupt nur überfliege, bleibe ich anderthalb Stunden dort oben. Von der Mauer aus entdecke ich ganz unten Doris mit ihrem Mann und mache mich lautstark bemerkbar. Etwas später taucht auch Diego in der Ferne auf und wir rufen uns Smalltalk zu, den wir beide schwer verstehen, da es windig ist hier oben und wir durch die Ausgrabungen getrennt sind.

 

Nun ist es wieder dunkler, und auch kälter geworden. Ich werde noch was essen gehen. Das Sandwich von heute morgen habe ich zur Hälfte entsorgt, weil es so arg nach Mayo geschmeckt hat. In zwei Stunden schlafe ich bestimmt wieder wie ein Engelchen...

11.03.2020
Alcalá la Real - Alcaudete (25 km)

Ohne Frühstück, dafür mit Bananen und Schokocroissants im Gepäck, geht es raus aus der Stadt. Als ich den Abstieg auf dieser und den Aufstieg auf der gegenüberliegenden Seite sehe, beschließe ich, den Fleece direkt zu verstauen und dafür die Stöcker rauszuholen. Heute soll es ziemlich heiß werden, über 30 Grad sind angekündigt.

 

Der Weg geht angenehm durch die bereits bekannten, omnipräsenten Olivenplantagen, und dann zwischen Berg und Straße sehr idyllisch kilometerweit bergab, um, natürlich, auf der anderen Seite wieder bergauf zu führen. Aber ich habe meine Stöcker, wunderbare Aussichten auf typisch andalusische weiße Dörfer in der Ferne und es geht mir gut.

 

Nach ca. drei Stunden laufe ich in meiner Zwischenstation ein, in der es hoffentlich eine geöffnete Bar gibt. Am Ortseingang hält ein Auto neben mir, ein älterer Mann schaut mich an. Que pasó, frage ich ihn, was ist los, und er begrüßt mich auf Deutsch. Kennen wir uns? Ja, sagt er, ich sei doch der Pilger, der gestern von der Burg herunter nach seiner Frau gerufen hat. Ah, der Mann von Doris! Er stellt sich mir als Benedikt vor und textet dann 10 Minuten lang. Der arme Kerl, ihm ist bestimmt langweilig, da er die meiste Zeit im Auto sitzt und auf seine Frau wartet, die ich heute im übrigen noch nicht gesehen habe. Wir plaudern noch ein bisschen, dann entlässt er mich in die Suche nach einer Bar, welche ich auch nach wenigen Minuten entdecke, ebenso wie einen Supermarkt, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 30 kaufe. Der 10er reicht heute einfach nicht mehr.

 

Die Bar hat Tische draußen, allesamt in der prallen Sonne. Wieso nur spannt der Chef die beiden großen Schirme nicht auf? Ich nehme meinen Kaffee und mein Bier und setze mich auf eine angrenzende Parkbank im Schatten einer Laterne. Als ich mich gerade zusammenpacken will, läuft Doris ein. Sie sucht ihren Mann von dem sie mir erzählt, dass er schon zwei Mal am Knie und einmal an der Hüfte operiert wurde, und in den letzten Jahren bereits fünf mal reanimiert werden musste. Der Arme. Die Holländer müssten auch bald kommen, sie hat sie am Ortseingang überholt. Sie sucht jetzt mal ihren Mann. Heute will sie nicht mehr weiter laufen.

 

Ich packe also meine Sachen, gucke noch mal ums Eck, falls die Holländer grad kommen, sehe sie nicht, überquere schon die Straße, als hinter mir eine bekannte Frauenstimme meinen Namen ruft. Die Holländer sind von der anderen Seite des Platzes reingekommen und haben mich grad noch ums Eck biegen sehen. Irgendwie sind wir schon fast so etwas wie eine kleine Familie, Doris, die Holländer und ich... Kraina will heute auch nicht mehr laufen sondern fährt mit dem Bus das letzte Stück. Mario will schon, aber vorher essen sie was. Ich setze mich also wieder in Bewegung. Vielleicht sieht man sich ja später.

 

Der weitere Weg wird nun sehr einsam (Überraschung). Es geht über 10Kilometer leicht aber stetig bergauf durch die Olivenplantagen, von wo aus sich ständig grandiose Aussichten bieten. Ich fange an zu singen, werde aber bald müde davon. Vielleicht sind Calaf, Liu und Turandot doch (noch?) eine Nummer zu groß für mich und ich sollte bei „Mein Freund der Baum“ oder „Ich wollt ich wär‘ ein Huhn“ bleiben. Ich amüsiere mich prächtig mit mir, denke an Erlebnisse, die teilweise schon Jahre zurück liegen, und fange mehrmals laut an zu lachen. Dass ich mich mit mir selbst langweilen würde, lasse ich mir nicht nachsagen.

 

Ich laufe mit verbranntem Gesicht und Gliedmaßen zu einem Zeitpunkt in Alcaudete ein, zu dem ich wirklich keine Lust mehr habe zu laufen, und wen sehe ich da schon im Auto im Schatten sitzen: Benedikt. Doris wollte doch noch weiter laufen. Erneut legen wir einen kleinen Plausch ein, dann ziehe ich weiter. Ich muss dringend raus aus der Sonne. Meinen wasserdurchtränkten Schal ziehe ich mir über die Nase und verstoße in Kombination mit der Sonnenbrille bestimmt gegen das Vermummungsverbot, falls es das hier auch gibt. Ich steuere meine Pension an und nach einer Dusche begebe ich mich auf Erkundungstour durch den Ort. Mein Ziel ist die Burg, doch oben angekommen stehe ich vor verschlossener Tür mit einem Schild das mir sagt, wenn ich in die Burg will, soll ich folgende Nummer anrufen, was ich mehrmals tue, aber jedes Mal geht der Anrufbeantworter ran. Ich drehe eine Runde, genieße die Aussicht, mache Fotos. Nach einer halben Stunde probiere ich es noch mal. Es ist jetzt viertel vor sechs. Wenn keiner rangeht, gebe ich es auf uns trinke ein Bier. Es klingelt durch! Eine Frau sagt mir, der letzte Einlass sei vor einer halben Stunde gewesen (ernsthaft?), aber was soll’s, ich soll warten, sie lässt mich gleich rein. Als sich das Tor öffnet, erklärt sie mir kurz, wo ich was finde, wie ich auf den Turm komme und dass ich ca. 20 Minuten Zeit habe. Sie hat versucht, mich zurück zu rufen, aber ausländische Nummern kann sie nicht anrufen. Eintritt verlangt sie keinen mehr von mir. Sie ist wirklich nett, will aber wegen mir auch keine Überstunden machen, was ich verstehe, zumal ich, nachdem das ungezogene Konfirmationsmädchen im weißen Kleid mit Eltern und Fotografen abgezogen ist, ihr einziger Gast auf der Burg bin. Ich gebe Gas und gehe dann zu ihr, damit sie mich wieder rauslassen kann. Sie erklärt mir die ganze Geschichte des castillos, öffnet nun eine bereits abgeschlossene Kammer nach der anderen, macht Licht, damit ich mir alles anschauen kann. So bekomme ich letzten Endes meine private Führung. Auch wenn ich nicht alle Details verstehe, sie mich auch nicht interessieren, finde ich das alles andere als selbstverständlich und bin sehr dankbar für dieses Erlebnis. Am Ende sperren wir die Burg gemeinsam zu.

 

Zu guter Letzt gehe ich noch was essen in dem einzigen Restaurant, dass ich zu entdecken im Stande bin, treffe zufällig noch die vorbeiziehenden Holländer, und gehe ins Bett.

12.3.2020
Alcaudete - Baena (27 km)

Die Etappen werden langsam länger: laut Büchlein erwarten mich heute 27 Kilometer, wofür knapp 9 Stunden veranschlagt werden. Das Büchlein kalkuliert in der Regel sehr großzügig, 20 Prozent der Zeit kann man locker abziehen. Ich denke, wenn ich gegen 9 losziehe, bin ich um 4 dort. Erstmal muss ich allerdings zum Supermarkt, denn auf dieser Etappe gibt es, wie bei so vielen, unterwegs keine Möglichkeit der Einkehr oder Verpflegung, daher werde ich mit zwei brandneuen 1,5-Liter-Flaschen starten. Und wen sehe ich beim Reingehen: Mario. Er wird heute allein wandern, Kraina bleibt in Alcaudete und überspringt die Etappe, weswegen er heute Abend auch wieder mit dem Bus zurück fahren wird. Wir gehen gemeinsam zurück bis zu seinem Hotel, denn der Weg führt dort vorbei, dann geht es für mich wieder allein weiter.

 

Es geht kilometerweit stetig leicht bergab, vorbei an einem riesigen Solarfeld, an einem kleinen Fluss, wieder ein Stück an meiner alten Freundin, der N 432, einer Fernstraße, entlang und letztlich runter zu einem See, der eigentlich den Höhepunkt der Etappe darstellen soll. Der See führt so gut wie kein Wasser. Statt durch parkähnliche Grünanlagen außen rum stapfe ich quasi durch einen umgepflügten Kartoffelacker. Zu einer Pause lädt hier nichts ein. Ich laufe an dem „See“ vorbei in Richtung eines kleines Häuschens und wer winkt mir aus einem Auto raus, das direkt daneben steht: Benedikt. Im Gegensatz zu gestern steigt er gleich selbst aus. Ich hab ihn ja nur einmal gesehen, mit Krücken unter beiden Armen, aber heute scheint er agiler zu sein. Wie üblich machen wir einen kleinen Plausch, dann verabschiede ich mich und nehme beim Weitergehen wahr, wie Benedikt sich sogleich auf zwei Radfahrer stürzt, und seine Hilfe beim Finden des richtigen Weges anbietet. Die zwei haben, soweit ich das mitbekommen habe, irgendwas Osteuropäisches gesprochen. Benedikt ist wirklich für jeden Plausch dankbar. Ein liebenswerter Mensch und bisher auf jeden Fall derjenige, den ich am öftesten auf dem camino getroffen habe, obwohl er selbst keinen Meter gegangen ist.

 

Ein paar Kilometer weiter mache ich Pause, lege mich am Wegesrand unter einen Olivenbaum und esse meine mitgebrachten Schokocroissants. Und wer kommt zehn Minuten später des Weges, der erste Pilger seit Diego (wo der wohl steckt), den ich auf dem camino treffe: Mario. Wir laufen den Rest der Strecke gemeinsam und plaudern über alles mögliche. Bei der Gelegenheit erfahre ich auch, dass er schon 66 und Kraina 69 ist. In Baena verabschieden wir uns voneinander, denn er will zur Bushaltestelle und ich zum Hotel. Mal schauen, ob wir uns morgen begegnen.

 

Ich mache ein kleines Nickerchen, dann steige ich bergauf in Richtung Burg, der vierten in vier Tagen. Die Wirtin meiner Pension war mäßig freundlich und konnte auch nicht sagen, wie lange die Burg geöffnet hat. Auf dem Weg nach oben werde ich von einem Hund angegriffen, also er ist bellend an mir hochgesprungen, ich finde das zählt als Angriff! Seinem Herrchen gebe ich ein paar deutliche Worte mit, als er, selbst erschrocken, seinen Drecksköter zurück pfeift. Die Burg hat geöffnet und außer mir ist niemand da. Ich frage die nette Frau, die mir für den Besuch 2 Euro abknöpft, wie lange denn geöffnet ist. Das weiß niemand, sagt sie mir, morgen sitzt der Gemeinderat beisammen und beschließt Maßnahmen zur Lage der Nation Baenas im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes durch Corona-Wahnsinn. Ich wollte wissen, wie lange heute geöffnet ist. Im Übrigen, so teile ich ihr mit, halte ich es für sehr viel wahrscheinlicher, durch die Attacke eines Hundes ums Leben zu kommen als durch das Corona-Virus. Sie lacht, und nachdem alle Formalitäten erledigt sind, kommt sie mit mir ins Innere der Burg und erklärt mir alles genau, insgesamt zweier Legenden, die sie zum Besten gibt. Jedes mal fragt sie: kennst du den? Kennst du jenen? Jedes mal lautet meine Antwort nein, und es ist mir schon peinlich. Dann überlässt sie mich mir selbst und ich klettere wie üblich zuerst auf den Turm. Viel mehr gibt es auch nicht zu besichtigen. Das Burgfräulein von gestern hatte recht, als sie sich despektierlich über die Burg Baenas äußerte.

 

Beim Runtergehen fülle ich im Supermarkt meine Getränkevorräte auf, frage nach einer Empfehlung für‘s Abendessen, gehe dort hin und um zehn ins Bett. Morgen wird zwar ein kurzer Wandertag, daher hätte ich gar keinen Stress. Aber ich bin müde. Halb elf schlafe ich ein.

13.3.2020
Baena - Castro del Río (22 km)

Heute ist ein unspektakulären Wandertag. Es geht erst kilometerweit durch Olivenplantagen nach Norden, dann über eine Brücke, wo ich natürlich Benedikt wieder treffe (mittlerweile ist Benedikt nicht mehr der Mann von Doris sondern Doris die Frau von Benedikt), und dann noch mal 13 Kilometer auf einer kleinen asphaltierten Straße nach Westen. Es gibt keine Bar und die Strecke hat außer ein paar netten Aussichten zu Beginn recht wenig zu bieten, ist dafür aber nicht schwer zu laufen und mit ca. 20 Kilometern ziemlich kurz. Im Alltag wäre sie vergleichbar mit einem monotonen Arbeitstag, ohne besondere Vorkommnisse, weder gute noch schlechte. Und in der Glotze kommt auch nichts Gescheites. Corona macht alle ganz mürbe. In der Glotze spricht der spanische Präsident zum Volk. Sehenswürdigkeiten wie die Mezquita sind ab morgen geschlossen. Ausgerechnet, wo ich doch morgen in Córdoba einlaufe... Wenigstens die Alhambra konnte ich mir noch anschauen.

 

Die Wirtsfrau meiner Pension hat nicht mit meiner Ankunft gerechnet, zu viele Absagen hat sie in den letzten Tagen schon bekommen. Ob sie morgen noch aufmachen, wissen sie noch nicht. Angeblich sollen alle Restaurants und Supermärkte geschlossen werden. (Na das fehlte mir ja grad noch!) Ich esse lecker Mittag, mache wieder ein Nickerchen und drehe danach eine Runde durch den hübschen Ort. Leider ist Castro del Río zwar hübsch anzuschauen, aber sehr verschlossen. Die Burg ist nicht zu besichtigen. Die Kirchentüren sind zu und als Turisteninformation entdecke ich nur eine Tafel mit ein paar Informationen zum camino. Ich kaufe Getränke und Zuckerbrot für morgen und schlendere wieder in mein Hotel zurück. Nun sitze ich wieder vor der Pension an einem der ansonsten unbesetzten Tische draußen. Seit halb acht kommen im Minutentakt mittelalterliche Männer mit ihren Autos und gehen in die Bar. Nach draußen kommen sie nur zum Rauchen. Auch beim Mittag saß ich allein im Hof (auf Nachfrage, ob man denn auch draußen essen könne). Die Wirtin meinte, das ginge schon, allerdings sei es dort etwas staubig, weil nie jemand dort sitzen will, da es den Leuten entweder zu heiß oder zu kalt ist. Die Dorfbevölkerung ist schon etwas eigen, das fällt mir bereits seit ein paar Tagen auf. Wenn man nicht dazu gehört, gehört man nicht dazu.

 

Nun werde ich noch ein Bier trinken und dann ins Bett gehen. Morgen muss ich früh raus, denn morgen wartet die bislang längste Etappe mit knapp 40 Kilometern auf mich, an dessen Ende mich Córdoba erwartet, wo ich einen freien Tag einlegen werde. Leider ohne Mezquita.

14.3.2020
Castro del Río - Córdoba (40 km)

Es ist Zeit, meinen Blog weiter zu schreiben. Gestern war ich zu paralysiert von den Entwicklungen, die meine Reise genommen hat, aber nun geht es wieder.

 

Am Samstag stehe ich früh auf, denn wie gesagt erwartet mich heute mit knapp 40 Kilometern die bisher längste Etappe. Ab Castro gibt es zwei Routen: meine und eine Alternative, die zwar ca. 10 km länger ist, dafür aber die Möglichkeit bietet, sie auf zwei Tage aufzuteilen. Meine Holländer, die ich seit vorgestern nicht mehr gesehen habe, wollen sich für diese Option entscheiden. Um halb 8 mache ich mich auf den Weg. Es geht erst hübsch durch Olivenplantagen, später an einer kleinen Asphaltstraße entlang und nach ca. 2 Stunden biegt der Weg ab auf ein Feld und folgt einer Schneise, die Traktoren im Laufe der Zeit in den Boden gefräst haben. Von einem Weg im engeren Sinne kann man nicht sprechen.

 

Die Wegführung ist teilweise sehr schlecht beschildert. Ich laufe zweimal nach einigen hundert Metern wieder zurück, da ich scheinbar falsch bin. Immer wieder folge ich mehr meinem Gefühl als der Beschreibung im Buch. Die Olivenplantagen werden abgelöst von endlosen, hügeligen Feldern. Der Weg geht auf und ab durch die Felder hindurch, stundenlang. Es sieht ein bisschen aus wie auf dem Windberg in meiner Heimat Bleicherode, nur viel größer dimensioniert.

 

Ab und zu dient die Ruine eines ehemaligen Hauses als Orientierungspunkt. Die zahllosen Ruinen sind faszinierend und traurig zugleich. Ich stelle mir vor, wie hier früher einmal eine Familie gewohnt hat, Kinder vor der Tür gespielt haben, bis die Mutter in ihrer typisch spanischen Art laut zum Essen gerufen hat. Wie lange die Häuser wohl bewohnt waren, wie lange sie es nicht mehr sind?

 

Nach 18 Kilometern treffen beide Wegalternativen wieder aufeinander. Es ist fast Halbzeit. Ich rechne damit, nun wieder andere Pilger zu treffen, habe im Hinterkopf das Zusammentreffen meines einsamen camino primitivos (an den dieses Stück hier frappierend erinnert) mit dem camino del norte 2 Tage hinter Lugo und sehe: niemanden. Nicht eine einzige Person, die sich die lange Asphaltstraße bergauf kämpft. Entweder, die sind alle heute früh morgens schon gestartet oder es gibt immer noch keine neuen Pilger. Mario hat mir erzählt, dass der Besitzer ihrer Pension in Alcaudete gesagt hätte, auf dem camino mozárabe seien nur Profis unterwegs. Auf meine Frage, wie das gemeint sei, meinte er: Wie viele caminos hast du schon gemacht? Naja, den francés, den inglés, den primitivo und den portugués. Siehst du, genau das hat er gemeint.

 

Der mozárabe ist der erste Weg, auf dem ich kaum Stempel gesammelt habe. Ich habe einfach immer wieder vergessen, danach zu fragen, was vielleicht auch daran liegt, dass ich die Credencial in Mérida niemandem zeigen muss und kein Zertifikat bekomme.

 

Nach weiteren 10 Kilometern beginnt der lange, wirklich sehr lange Abstieg auf einer breiten Piste. Die Sonne brennt ordentlich runter. Es geht über 2 Stunden bergab auf dieser Strecke, man sieht Córdoba schon in der Ferne und es kommt nicht wirklich näher. Ich überlege mir, wie ich es übermorgen machen will. Da erwartet mich laut Plan auch wieder eine lange Etappe. Ob ich ein Stückchen mit dem Bus fahre und bescheiße? Naja, das muss ich ja nicht jetzt entscheiden. Solche Entscheidungen am Ende einer 40-km-Etappe zu treffen ist wie mit knurrendem Magen einkaufen zu gehen: man entscheidet sich für Dinge, die man gar nicht braucht.

 

Gegen halb fünf passiere ich tatsächlich die ersten Häuser von Córdoba. Liegt es an der Siesta oder an Corona, dass die Straßen so leer und alle Bars und Läden geschlossen sind? Ich bleibe optimistisch und laufe auf die Römerbrücke zu, eine der Hauptattraktionen Córdobas. Auch hier ist kaum eine Menschenseele. An einem Hotel hängt ein Schild, dass es aufgrund der aktuellen Lage geschlossen bleibt. Oh Gott, was mache ich, wenn meine Wirtin von gestern recht hatte und die Hotels ab heute geschlossen bleiben? Ich bin einigermaßen erleichtert, als ich mein gebuchtes Hotel erreiche und die Schiebetüren sich öffnen. Man gibt mir beim Check-in einen Stadtplan mit sämtlichen Sehenswürdigkeiten, sagt mir aber, das man glaubt, dass keine davon geöffnet haben wird. Ich trinke ein Bier im Patio, dem Hotelhof, dusche mich und drehe eine kleine Runde. Die Stadt ist wie ausgestorben, es sind kaum Leute auf der Straße. Abgesehen von einem einzigen Lokal hat niemand geöffnet. So ist Sightseeing langweilig. Ich gehe zurück ins Hotel und esse zu Abend.

 

Während dessen erreichen mit die Schreckensbotschaften: der spanische Präsident hat den nationalen Notstand inklusive Ausgangssperre ausgerufen. Ab Montag 8 Uhr wird es nicht mehr erlaubt sein, sich frei auf den Straßen aufzuhalten, außer man muss einkaufen oder zum Arzt. Geschäfte, mit Ausnahme von Apotheken und Supermärkten bleiben geschlossen. Du lieber Gott. Freunde schreiben mir, fragen, wie es mir geht, wie die Lage ist, was ich jetzt machen will. Oma macht sich große Sorgen. Ich sage ihr, dass eine überstürzte Entscheidung selten eine gute ist und dass ich den morgigen Tag noch abwarten will. Aktuell sehe ich keine Notwendigkeit, meine Reise abzubrechen. Die Rahmenbedingungen haben die Durchführung allerdings erheblich erschwert. Ich lege mich erstmal schlafen. Der nächste Tag bringt sicherlich neue Erkenntnisse.

15.3.2020
Córdoba - Madrid (wer hätte damit gerechnet...)

Ich wache um 7 Uhr auf und gehe frühstücken. Meine Emails sagen mir, dass ich mich bei einigen Hotels melden soll, die ich für die kommende Woche gebucht habe und dass meine Busreise von Mérida nach Lissabon storniert wurde und bis 31.3. keine Alsa-Busse mehr fahren. Du meine Güte, und wie komme ich nach Lissabon? Bernardo hat mir am Telefon erzählt, dass die Lage in Lissabon ganz ähnlich ist wie in Madrid. Alle Bars geschlossen, eine Stadt steht still. An der Rezeption frage ich die Dame und die daneben stehende Bedienungsdame nach ihrer Meinung: hat es Sinn, unter diesen Umständen meine Reise fortzusetzen? Beide schütteln mit dem Kopf und bestätigen mir damit, was ich tief im Inneren schon geahnt habe aber bisher nicht wahrhaben will: meine Reise ist beendet.

 

Ich telefoniere mit den Hotels. Alle sind ganz bezaubernd zu mir und versichern mir, dass ich zwar stornieren müsse aber nicht auf den Stornokosten sitzen bleiben würde. Zwei Telefonate seien kurz wiedergegeben:

Hotel A sagt mir, sie müssen schließen. Da sie aber glauben, ich sei ein Pilger, solle ich ihnen Bescheid geben, dann würden sie mich schon unterbringen. Auf meine Frage, ob ich denn auch was zu essen bekäme, da die Restaurants ja schließen, sagt man mir, ja, man würde mich extra auch bekochen, auch wenn das Hotelrestaurant geschlossen hat.

Hotel B sagt mir auch, dass sie schließen würden. Würde ich aber kommen wollen, würde mich die Besitzerin zur Not bei sich zu Hause unterbringen.

Beide Telefonate enden mit besos y abrazos, Küsschen und Umarmungen, wir wünschen uns alles Gute und hoffen, dass wir uns bald persönlich kennen lernen. In schweren Zeiten rückt die Gesellschaft zusammen.

 

Für 10 Uhr buche ich einen Zug nach Madrid aus Angst, morgen nicht mehr weg zu kommen. Als ich das Hotel verlasse, kämpfe ich mit den Tränen. Gestern um diese Zeit war meine größte Sorge die lange Etappe. Wer hätte da gedacht, dass es meine vorerst letzte sein würde. Aber es war auch gut so, nichts zu wissen, sonst hätte ich mich den ganzen Tag über verrückt gemacht. So konnte ich die anstrengende Etappe wenigstens noch genießen (wenn auch fluchend). Und geändert hätte es auch nichts. Trotzdem: ich bin einfach noch nicht bereit, jetzt schon wieder heim zu fahren. Laut Plan standen mir noch zwei Wochen Urlaub zu!

 

Mit dem Taxi fahre ich zum Bahnhof. Die Straßen sind leer, rote Ampeln werden einfach überfahren, weil eh niemand unterwegs ist. Es ist wie in einem Endzeit-Horror. Nun heule ich wirklich, es hilft ja nichts. Vom Zug aus versuche ich Kontakt zu Freunden in Madrid aufzunehmen, zwei Brasilianer, die letztes Jahr bei uns zu Besuch waren. Diese haben aber ihrerseits Besuch aus Brasilien und sitzen seit Tagen zu sechst in ihrer Wohnung fest. Leider kann ich daher nicht bei ihnen übernachten. Ich nehme mir also ein Hotel in Flughafennähe, das ich mit dem Taxi ansteuere. Morgen um 15 Uhr soll mein Flug zurück nach München gehen. Den Rest des Tages verbringe ich abwechselnd im Hotelzimmer oder an der Hotelbar. Rausgehen ist ja verboten. Die spanische Polizei setzt Drohnen ein, um den Hausarrest überwachen zu können. Und sonst gibt es nicht zu tun.

16.3.2020 
Madrid - München (hoffentlich)

Die Lage verschärft sich beinahe stündlich, habe ich das Gefühl, sowohl in Deutschland (geschlossene Grenzen, Baden-Württemberg will Flughäfen dicht machen, in Bayern ist wohl der Katastrophenfall ausgerufen) als auch hier, wo seit heute um 8 Uhr die Ausgangssperre gilt und das Militär die Straßen bewacht. Der Zugverkehr ist auf ein Drittel des regulären Betriebs zusammen gedampft worden, hat der Verkehrsminister soeben im Fernsehen verkündet. Nur gut, dass ich gestern bereits nach Madrid gefahren bin. Mein Flug scheint wie geplant zu gehen. Mal schauen, ob ich zu Hause in Quarantäne gesteckt werde. Ich gehe davon aus. Der Flughafen ist verwaist. Außer einer Apotheke, bei der alle Atemschutzmasken ausverkauft sind, hat nichts auf. Selbst Getränke gibt es nur am Automaten.

 

Es fällt mir schwer, diesen Blog mit einem positiven Fazit zu beschließen. Von den geplanten 420 Kilometern habe ich immerhin ca. 170 geschafft und bin in meinem Zwischenhalt Córdoba eingelaufen. Es sind gerade sehr schwierige Zeiten, in denen schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen und jeder Opfer zu bringen hat. Hoffen wir, dass sich die Lage in ein paar Monaten wieder beruhigt und ich vielleicht im Mai meinen camino fortsetzen kann. Bis dahin: passt auf euch, passt auf einander auf und bleibt gesund!