Es geht los! Endlich!!
Zur Einstimmung auf meine Reise habe ich soeben noch mal meinen Blog vom letzten Jahr gelesen, Camino mozárabe Teil 1. Junge, Junge, anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie liest sich das wie ein sehr spezielles Zeugnis einer sehr speziellen Zeit. Wie hübsch naiv ich damals war zu glauben, im Mai, also zwei Monate später, wieder unterwegs sein zu können. Heute, anderthalb Jahre später, sind wir alle schlauer. Und nun endlich, anderthalb Jahre nach dem plötzlichen Abbruch meiner Reise, kann ich meinen Weg endlich fortsetzen!
Mein Weg lässt sich gedanklich dreiteilen: Neues entdecken, Bekanntes noch einmal sehen, Liegen-Gebliebenes vollenden. Neues entdecken, da ich für den Start meiner Reise die Variante von Jaén laufen möchte. Diese führt innerhalb von zwei Tagen nach Alcaudete, das ich beim letzten Mal schon lieb gewonnen habe und von wo aus mich die Route auf bereits bekannten Wegen nach Córdoba bringt. Zumindest teilweise, denn diesmal nehme ich mir die Zeit, ab Castro del Rio die zweitägige Wegalternative und das von der Ferne aus sehr schön aussehende, auf dem Berg liegende Dort Espejo kennenzulernen. Ab Córdoba wird dann das Liegen-Gebliebene vom letzten Jahr nachgeholt und ich durchlaufe die Extremadura bis nach Mérida. Gestern, zehn Tage vor Beginn der Reise, wurde der Hinflug, das Zugticket sowie die ersten Hotels gebucht. Von mir aus kann es losgehen.
Schon seit Tagen bin ich so aufgeregt, dass ich kaum noch schlafen kann und jeden Morgen um halb fünf aufwache. Aber heute geht es nun endlich los! Ich werde zuerst nach Madrid fliegen, wo ich entgegen meines ursprünglichen Plans keine Übernachtung eingeplant habe sondern stattdessen direkt mit dem Zug weiterfahre nach Jaén. So habe ich morgen den ganzen Tag Zeit, mir die Stadt anzuschauen.
Da ich unschlauerweise gestern noch Sonnencreme gekauft habe, muss ich meinen Rucksack aufgeben. Also eigentlich war die Idee schlau, denn meistens habe ich ja direkt an Tag zwei einen Sonnenbrand. Durch Corona und die Ausfälle im letzten Jahr habe ich noch jede Menge Gutscheine diverser Airlines: Air Europa 90 Euro, Iberia 235 Euro, TAP 288 Euro. Ich weiß gar nicht, wann ich die noch alle einlösen soll… Nun ist die Zeit dafür gekommen, und um möglichst schnell rauszuhauen, habe ich (jetzt wirklich) schlauerweise gleich mit Gepäck im Frachtraum gebucht, wodurch ich nun zumindest keine ärgerlichen Zusatzkosten fürchten muss. Und grundsätzlich ist es ja auch wirklich praktischer, nicht alles schleppen zu müssen.
In der Check-in-Schlange stehend spricht mich ein junges Mädel an. Sie hat mich an meiner Klamotte als Pilger identifiziert. Pia aus Dresden (hallo Pia! :-D). Sie reist nach Vigo, wo ihr Freund, aus Porto kommend, schon auf sie wartet, auf dass sie die letzten gut hundert Kilometer gemeinsam nach Santiago laufen. Es ist ihr erster Jakobsweg, entsprechend aufgeregt blickt sie dem Abenteuer entgegen. Wir unterhalten uns, erst in der Schlange, später am Gate, über alles mögliche, vor allem natürlich über den Camino, aber auch über die Tendenz im Osten, AFD zu wählen und, natürlich, über Corona. An diesem Thema führt nach wie vor kein Weg vorbei. Aber das ist okay, sofern man Gleichgesinnte trifft. Auf Diskussionen mit Leugnern und Impf-Verweigerern haben wir mittlerweile keinen Bock mehr. Pia und ich vernetzen uns vor dem Abflug noch schnell auf Insta (dort, wo ich sie erstmals ohne Maske sehe, kommt sie mir so bekannt vor). Da ich in Madrid zum Gepäck muss und sie zu ihrem Anschlussgate, sie zudem in 23F sitzt und ich in 5A, werden wir uns wohl vorerst nicht mehr sehen. Wir umarmen uns, wünschen uns buen camino (am Flughafen München hatte ich das auch noch nicht) und steigen ins Flugzeug. Im Flugzeug lese ich einen interessanten Artikel im SPIEGEL, bei dem es um unterschiedlich Realitäten geht. Vielleicht muss ich doch wieder anfangen, mit Leugnern und Verweigerern zu reden. Aber nicht heute.
In Madrid nehme ich erst den Bus zum Bahnhof Atocha, gehe vor Ort noch schnell ein Calamares-Sandwich in der dafür bekannten Bar Brillante essen (es lohnt sich nicht!) und finde nach längerer Suche und vier Mal nachfragen auch endlich den Eingang zu meinem Gleis. Nach vier ereignislosen Stunden Zugfahrt, die zwischendurch durch auch einen hübschen Nationalpark gehen, komme ich an Gleis 1 von 2 in Jaén an. Nachdem ich mein Zimmer bezogen und meinen Rucksack aufs Bett geworfen habe, suche ich mir noch eine Bar, in der ich für zu viel Geld ein viel zu scharfes Wasabi-Lachs-Sandwich bestelle, und gehe anschließend auf direktem Weg in die Heia. Mittlerweile ist es mir übrigens eingefallen: Pia erinnert mich an Olena Tokar, Sopranistin im Leipziger Ensemble und vor etlichen Jahren Gewinnerin des ARD-Musikwettbewerbs im Fach Gesang.
21.10.2021
Jaén
Mein Zimmer ist der Hit! Gestern Abend war es ja schon dunkel, daher konnte ich das gar nicht mehr sehen, aber ich habe eine tolle Dachterrasse mit Ausblick über den Dächern der Stadt. Frühstück gibt es immer nach vorheriger zeitlicher Zuteilung. Ich konnte es mir aussuchen: entweder ich komme um 7 Uhr, bevor die französische Reisegruppe kurz später einfällt, oder um 9. ich entscheide mich für 9, da ich befürchte, andernfalls meinen ersten Urlaubstag direkt mit einer Stresssituation zu beginnen, und das möchte ich nicht. Um neun bin ich tatsächlich der einzige verbleibende Gast am Buffet. Wo ich mich bedient habe wird ausgeschaltet und abgeräumt. Das nenne ich entspannend.
Mein Sightseeing des Tages beginnt damit, dass ich in der Turi-Info vorbei schaue und nachfrage, ob sie evtl. detailliertes Material über die ersten 45 km des Caminos bis nach Alcaudete habe. „Alcaudete?? Dort geht ein Jakobsweg lang?“ entfährt es der netten Mitarbeiterin. Sie gibt mir ein Faltblatt, das aber keine neuen Erkenntnisse bereit hält, und lässt sich meine Email-Adresse geben. Sie sucht noch mal und würde es mir später per Mail zuschicken. Nun geht es aber erstmal in die Kathedrale. Der Audioguide langweilt mich und ich laufe stattdessen hin und her, gucke mir an, worauf ich Lust habe, drücke die entsprechende Taste, nur um kurz später wieder auszumachen. Die Kathedrale an sich ist allerdings sehr beeindruckend und schlichtweg schön. Eigentlich wollte ich noch eine Kerze für die vor drei Tagen verstorbene Edita Gruberová anzünden. Aber es gab keine echten sondern nur elektrische Kerzen und für diese hatte ich nicht das passende Kleingeld dabei. Es findet sich sicherlich noch eine Gelegenheit.
Nun geht es hoch zum Hotel Parador, dem Castillo de Santa Catalina und dem Aussichtspunkt mit dem riesigen Kreuz, dass man schon von Weitem sieht. Ich schaue mir zuerst das Castillo an, das im Großen und Ganzen denen gleicht, die ich schon im letzten Jahr besichtigt habe, und gehe im Anschluss vor zum Kreuz, von wo aus man einen sensationellen Blick auf Jaén und die umgebenden Berge hat. Wie das so ist bei so exponierten Orten, man ist selten allein und alsbald gesellt sich ein Pärchen zu mir und bittet mich darum, ein Foto von ihnen zu machen. Auch wenn sie spanisch reden: ihr seid keine Spanier, sage ich zu ihnen, und es stellt sich heraus, dass Heiko aus Deutschland und Ana Lucia aus Ecuador in Hamburg leben und nun in Córdoba Urlaub machen. Wir unterhalten uns bestimmt eine halbe Stunde lang, fachsimpeln über Sprachen, lästern über die lauten Spanier und es ist sehr lustig mit uns. Zu guter Letzt tauschen wir Telefonnummern und vereinbaren, in Córdoba etwas trinken zu gehen und treten den Rückweg an.
Unten angekommen entdecke ich den ersten gelben Pfeil. Endlich! Mein Alternativplan wäre gewesen, zurück zur Kathedrale zu gehen und dort nach einer Muschel, einem Pfeil oder einer sonstigen Markierung Ausschau zu halten. Das ist nun nicht mehr erforderlich, denn ich weiß, wo ich lang muss. Dass die Frau in der Turi-Info das nicht wusste… Der Plan ist keine 50 Meter entfernt. Mittlerweile ist sogar ihre Email mit weiterführenden Informationen angekommen. Ich fühle mich bestens gerüstet.
Da kommen Ana Lucia und Heiko ums Eck. Ich erläutere ihnen die Einzelheiten der Etappen, dann gehen wir erst vor zur Kathedrale und entscheiden uns dort, ein Bier trinken zu gehen. Es ist wirklich sehr lustig mit uns, neben Diskussionen, Fachsimpeleien und dem Austausch persönlicher Informationen (z.B. wie haben sie sich und Bernardo und ich uns kennengelernt) jagen immer wieder echt witzige Knaller über den Tisch. Wir überlegen, warum es sowohl im spanischen als auch im deutschen den Diminutivo gibt (-chen, -lein respektive -ito, -illo etc.), den Aumentativo, der durch entsprechende Endung die Dinge größer macht, kennt jedoch nur das Spanische. Meine nicht ganz ernst gemeinte Erklärung: die Deutschen haben das nicht nötig…
Nach dem Bier und einem kleinen Snack verabschieden wir uns diesmal wirklich bis nach Córdoba, denn die beiden fahren jetzt weiter nach Granada und ich gehe erstmal ins Hotel und mache Siesta. Gegen Abend drehe ich noch mal eine Runde, kaufe ein paar Kleinigkeiten und esse zu Abend. Ich finde, meine Reise hat in den zwei Tagen bereits ganz wundervolle Begegnungen bereit gehalten. Wenn das so weitergeht, wird es eine ganz großartige Reise. Außerdem stelle ich fest, dass Jaén zwar nicht wirklich richtig schön ist, aber ich fühle mich sehr wohl hier. Es erinnert mich immer wieder an Heraklio auf Kreta, nur eben ohne Meer. Und es geht ja am Ende darum, dass man sich gut fühlt. Kurz bevor ich mein Abendessen-Lokal in Richtung Hotel verlasse, schnorrt mich ein Bettler an. Ich kenne ihn schon von gestern, da habe ich ihm meine Croquetas abgetreten. Heute fragt er nach Geld, denn er will sich einen Döner kaufen. Ich gebe ihm zwei Euro und fühle mich danach schlecht. Ich hätte ihn fragen sollen, was sein Döner kostet. Das wäre nett gewesen. Naja, immerhin zieht er zufrieden von dannen und ich tue es ihm gleich.
Getroffene Pilger: Null.
Heute möchte ich meinen Camino richtig beginnen und starte an der Kathedrale. Ich warte wenige Minuten, denn um 10 öffnet sie ihre Pforten, da werde ich mir meinen ersten Stempel abholen. Da ich diesmal keine Lektüre dabei habe (von der Website, deren Link ich gestern per Mail erhalten habe, mal abgesehen), orientiere ich mich ausschließlich an den gelben Pfeilen. Man mag es kaum glauben, aber das klappt ziemlich gut. Die Stellen, an denen ich etwas ratlos beschließe, meiner Nase zu folgen, sind rar. Es geht zunächst einige Kilometer an einer hässlichen Hauptstraße entlang, raus aus der Stadt und anschließend rein in die Olivenplantagen. Jaén sei die Welthauptstadt des Olivenöls, verkündet die Plastik eines Kreisverkehrs. Aha.
Diesmal bin ich vernünftig und ziehe ab Beginn meine Kniebandage an. Meistens verhält es sich mit diesem Utensil wie mit der Sonnencreme: ich komme erst dann zu dem Schluss, sie zu nutzen, wenn der Schaden schon da ist. Nicht so diesmal. Ich bin älter geworden, reifer, vernünftiger, jawohl!
Der Weg ist nicht sonderlich spannend. Irgendwann komme ich ins nächste Dorf, zum Glück, denn ich brauche Wasser. Die spanischen Dörfer sind beim Einlaufen ja immer wenig einladend. Durch schmale Straßen ohne Gehsteig, zu beiden Seiten gesäumt von unattraktiven Häuserfronten, kein Mensch zu sehen, kämpft man sich vor in Richtung Kirche, wo man plötzlich, auf der Plaza de San Pedro, der Santa Ana oder sonst eines Heiligen, mittendrin ist im hübschen Dorfleben, wo es neben einer Bar, einer Bäckerei und einer Santander-Filiale sogar eine zweite Bar gibt, so dass man die Auswahl hat! An eben so eine Plaza führt mich mein Weg, und ich lasse mich an der zweiten Bar nieder und bestelle erstmal eine cerveza con limón. Netterweise bekommt man in Spanien außerhalb der Touristen-Hochburgen zum Bier immer auch eine Kleinigkeit zu essen. So auf den Geschmack gebracht, beschließe ich, direkt zur Mittagspause überzugehen, es ist immerhin schon halb zwei. Der gut aussehende Kellner plaudert munter mit mir in hiesigem Lokalkolorit, ich verstehe wenig und lächele nett. Als er mir die Rechnung bringt, wird das Zitronenbier als „Radler“ ausgewiesen, was mich erstaunt. Er fragt, was Radler bedeutet, ich versuche es ihm zu erklären, kenne ich doch die Legende der Wirtschaft an der Isar, denen aufgrund der vielen Fahrradfahrer das Bier so knapp wurde, dass man beschloss, es mit Limo zu strecken und als Radler feil bot. Meinen Kellner interessiert die lange Version herzlich wenig, die nächsten Gäste sind da und bestellen schon mal, während ich noch versuche, ihn bei Laune zu halten. Nun ja, dann hier die kurze Version: Radler bedeutet cerveza con limón.
Weiter geht es, erst steil bergauf dann steil bergab, in einer scharfen Kurve durch ein olles Dorf, in dem ich die Heilige Plaza nicht finde, durch noch mehr Olivenbäume und endlich nach Martos, meinem Tagesziel. Hier sehe ich keine Pfeile, also schlage ich mich so durch in Richtung Hotel, jede der zahlreichen Steigungen vermeidend. Was sich rächt, denn links oben sehe ich eine Aussichtsplattform, eine Kirche, das muss ich mir später ohne Rucksack noch anschauen. Ich checke in meinem Hotel ein, und mache mich wieder auf den Weg zu den links liegen gelassenen Sehenswürdigkeiten. Martos hat ansonsten wenig Charme, ist aus der Ferne reizvoller als aus der Nähe, und nachdem ich mir erneut den Magen voll geschlagen habe, gehe ich wieder in mein Hotel.
Getroffene Pilger: Null.
Ich glaube, ich war heute Nacht der einzige Gast dieses gar nicht so kleinen Hotels. Weder gestern Abend noch heute beim Frühstück sind mir andere Gäste begegnet.
Der Weg raus aus dem Ort erfordert nun erstmals den Einsatz der Website, denn Pfeile, die mich hier raus führen sollen, habe ich immer noch keine entdeckt. Ich kenne aber die Richtung und am Ende der Hauptstraße taucht der Pfeil doch tatsächlich wieder auf. Ich laufe nun wunderschön durch weite Olivenplantagen und fühle mich wieder verbunden mit der Natur. Nach circa zwei Stunden kreuzt der Weg die Via Verde, der zum Radweg ausgebauten ehemaligen Zugstrecke, die von Jaén nach irgendwo viel weiter südwestlich geht (hab es noch nicht gegoogelt, schaut halt selber nach!). Neidvoll blicke ich kurze Zeit später von unten auf die Eisenbahnbrücke, die die Radfahrer im Gegensatz zu mir überqueren. Heutige Binsenweisheit Nummer 1: Das Leben gibt dir nicht immer was du willst.
Kurz drauf treffen Camino und Via Verde wieder aufeinander. Im letzten Jahr dachte ich noch, wie toll müsse das sein, auf der Via Verde wandern zu können! Nun ist es soweit, ich laufe die nächsten Kilometer auf diesem außergewöhnlichen Weg! Hier ist was los! In kurzen Abständen begegnen mir die Fahrradfahrer. Na klar, heute ist Samstag, da haben die Leute Zeit, ihren Hobbies zu frönen. 90% der Radfahrer sind dicke, ältere Männer, die in neon-schillernder, farblich auf den Rahmen des (e)Bikes abgestimmter Klamotte ihre Runden drehen. Je höher die
Sonne steigt, desto seltener werden die Begegnungen. Wer auf ehemaligen Zugstrecken unterwegs ist, hat keine nennenswerten Steigungen zu fürchten. Allerdings gehen die Strecken entweder stumpf geradeaus oder in so großen Bögen, dass man mindestens einige hundert Meter weit voraus schauen kann. Das ist bereits nach kurzer Zeit ermüdend und langweilig, was mich zur heutigen Binsenweisheit Nummer 2 bringt: pass auf, was du dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen. Immerhin: während der nächsten 3 Stunden werde ich zwei Eisenbahnbrücken überqueren. Manchmal gibt dir das Leben halt doch, was du willst.
In Alcaudete angekommen, steuere ich direkt die Bar an. Heute will ich schlauer sein, ordentlich zu Mittag essen und mir das
Abendmahl sparen.
Nach der Stärkung trete ich den Weg auf die Burg an. Ich habe sie mir zwar beim letzten Mal schon angeschaut, diesmal habe ich aber erstens ausgiebig Zeit und zweitens den Audioguide! Außerdem bietet der blauäugige Junge Spanier, der zur Einlasskontrolle und für Führungen oben eingesetzt ist, immer wieder erklärende Ausführungen an. Hach, ist das schön, wieder hier zu sein! Nachdem ich alle Kammern gesehen und auch reichlich Zeit auf dem Turm verbracht habe, setze ich mich in Bewegung in Richtung Hostal. Ich habe mich im gleichen wie letztes Jahr einquartiert. Der alte Gastwirt, dessen Aussprache ich nun wirklich kaum noch verstehe, versucht mir durch die Nennung der Zimmernummer auf Italienisch entgegen zu kommen. Jetzt geht das wieder los! Nach dem Bezug hole ich mir aus dem Supermarkt noch Getränke für morgen und ein Bier für heute Abend sowie 3 Bananen. Ich lege mich ein bisschen ins Bett, werde dabei allerdings so müde, dass ich tatsächlich um 8 Uhr einschlafe und erst am nächsten morgen wieder wach werde.
Getroffene Pilger: Null.
Ich wäre ja noch einen Tag in Alcaudete geblieben, da aber die nächste Pension im nächsten Ort bereits auf mich wartet, marschiere ich los. Alcaudete mit seiner sehr gut erhaltenen Burganlage hat schon ein ganz besonderes Flair. Das Dorf als schön zu bezeichnen wäre übertrieben. Es stahlt eher eine besondere Art der Ruhe aus, die mir gut tut. Zudem sind die Bewohner sehr freundlich und die Aussichten schlichtweg überwältigend. An der Burg begegne ich noch mal dem Einlass-Schnuckel von gestern mit seinen blauen Augen. Jaime aus Baena. Er ist zwar jung genug, um mein Sohn zu sein, aber zu einem netten Plausch mit gut aussehenden Jungs habe ich noch nie nein gesagt.
Den Weg raus aus dem Ort kenne ich. Es geht vorbei an dem riesigen Solarpark, später an der Lagune und immer wieder durch ausgedehnte Olivenplantagen, wie sollte es anders sein. Abgesehen von der Überquerung der Via Verde treffe ich niemanden, nur ein paar Autos fahren anfangs an mir vorbei. Es ist jetzt schon der dritte Tag, ohne einem anderen Pilger begegnet zu sein. Von Jaén bis Alcaudete handelt es sich um eine Nebenroute eines ohnehin nicht sonderlich stark frequentierten Caminos. Ab jetzt sollten mir allerdings die Pilger aus Granada über den Weg laufen. Was sie bisher noch nicht tun. Bis es so weit ist genieße ich die Einsamkeit. Mittlerweile ist es richtig warm geworden, so dass ich beschließe, mein T-Shirt auszuziehen und oben ohne zu pilgern. Es ist toll! Der Wind weht angenehm um den Oberkörper und das Shirt selbst lege ich mir über die Schultern. So dient es mir als zusätzliche Polsterung. Ich liebe es und hoffe, dass es noch lange so warm und einsam bleibt.
Gegen halb sechs erreiche ich meine Pension, wieder die gleiche wie im letzten Jahr. Die Wirtin ist noch genauso uncharmant wie letztens. Manche Dinge ändern sich eben nicht. Baena schaue ich mir nicht weiter an. So toll fand ich den Ort nicht und das Castillo ist im Vergleich zu dem in meinem geliebten Alcaudete eine Enttäuschung. Ich suche mir eine Bar, esse einen Salat und gehe früh ins Bett.
Getroffene Pilger: Null.
Heute habe ich wenig zu berichten. Der Weg von Baena nach Castro del Rio ist mit 20 km überschaubar. Er geht erst 8 km durch Oliven nach Norden und im Anschluss 12 km auf einer kleinen Straße nach Westen. Die Hitze und die Eintönigkeit der Strecke lassen sie allerdings ziemlich anstrengend erscheinen. Ich mache, insbesondere in der zweiten Hälfte, mehrere Pausen unter Olivenbäumen und lasse mich dazu hinreißen, mir eine Olive in den Mund zu stecken. Es ist, als hätte ich in ein Stück Seife gebissen und obwohl ich direkt zwei Kaugummis einwerfe, hält sich der Geschmack noch eine halbe Stunde. Nun sehe ich zum ersten Mal, wie Oliven geerntet werden. Ein Fahrzeug mit einem Greifarm umarmt den Baum und schüttelt ihn ca. 15 Sekunden lang durch. Die Oliven fallen herunter auf ein vorher ausgelegtes Netz und brauchen nun nur noch eingesammelt werden.
Wie schon gestern in Baena mache ich auch heute kein Sightseeing, ich habe das Wesentliche ja letztes Jahr schon gesehen. Einquartiert habe ich mich auch wieder in der gleichen Pension wie im Vorjahr. Ich frage die Besitzerin, wie es ihr ergangen ist. Ach, wir wollen nicht klagen, wir sind alle gesund, sagt sie mir und da ich nun schon zum zweiten Mal hier bin, gewährt sie mir 5 Euro Rabatt auf meinen Übernachtungspreis, so dass ich nur zwanzig zahle. Wenn das nicht süß ist!
Getroffene Pilger: Null.
Auf dem Weg raus aus der Stadt komme ich wieder an der Weggabelung vorbei: rechts Córdoba, links Espejo. Ich gehe links, denn diesmal will ich mir dieses weiße Dorf ganz oben auf dem Berg anschauen, dass ich im letzten Jahr nur aus der Ferne gesehen habe. An der Hauptstraße entlang verlasse ich Castro, am Straßenrand liegt heute ein toter Dachs (glaube ich), gestern beim Reinkommen bin ich fast auf eine überfahrene Katze getreten, was mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Scheinbar ist dies kein guter Ort für Tiere.
An der nächsten Kreuzung verlasse ich die Straße, um wie üblich durch hübsche Olivenplantagen erst am Fluss entlang und schließlich den Berg hinauf zu kraxeln. Ganz oben erwartet mich Espejo mit einer kleinen Burg, die aus der Nähe noch beeindruckender aussieht als aus der Ferne. Das Dorf ist extrem steil. Ich stelle mir Oma mit ihrem Rollator vor, die hätte hier keine Chance. Ganz oben angekommen stelle ich fest, dass der Eingang zur Burg verschlossen ist. Was soll’s, setze ich mich eben auf die Aussichtsplattform davor, esse meine mitgebrachten Bananen und genieße den Ausblick. Wenige Minuten später nähern sich drei Leute dem Burgtor. Ich frage sie, ob man da reinkommt. Ja, ob ich mit ihnen mitgehen will? Na das lasse ich mich nicht zwei mal fragen, schnappe mein Zeug und schließe mich der kleinen Gruppe an. Für 5 Euro gibt Inma mir und dem spanischen Ehepaar eine Führung durch die sich in Privatbesitz befindlichen und im Originalzustand belassenen Anlage. Wir erkunden alle Räume, steigen zum Abschluss auf das Dach und ich kann mein Glück kaum fassen, zur genau richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Ein typischer Camino-Moment.
Nach erfolgter Besichtigung setze ich meine Wanderung fort. Über schattenlose Felder geht es Kilometer weit geradeaus in Richtung Santa Cruz. Knapp drei Stunden später erreiche ich mein Ziel, eine hübsche kleine Pension, in der ich fantastisch zu fortgeschrittener Stunde zu Mittag esse. Der Besitzer der Pension zeigt mir sogleich Fotos auf seinem Handy, denn auch er ist Pilger, ist schon von Sarria aus nach Santiago gelaufen und will demnächst von Tui aus wieder hin. Wir fachsimpeln ein bisschen über die unterschiedlichen Routen auf dem portugués, dann endlich zeigt er mir mein Zimmer (mit Terrasse!) und ich haue mich erst mal auf‘s Ohr. Später schaue ich auf einen Absacker noch mal in dem nun fast leeren Restaurant vorbei und gehe ins Bett.
Getroffene Pilger: sensationelle 3 (!!!), wenn auch in umgekehrter Richtung
Bevor es nach Córdoba geht, mache ich noch einen Abstecher am Dorfladen vorbei, denn ich muss mich mit Wasser eindecken, sonst schaffe ich diese einsame Etappe vermutlich nicht. Zunächst geht es auf der kleinen Landstraße entlang, stetig bergauf. In der Ferne tauchen die Hausberge von Jaén und Alcaudete auf. Dass ich die noch mal sehe!
Nach anderthalb Stunden treffen die beiden Wegalternativen wieder aufeinander. Genau wie im letzten Jahr bleibt der erwartete Pilgerstrom komplett aus. Es kommt niemand. Da man auf diesem Camino kilometerweit voraus und logischerweise nachher zurück schauen kann, ich weder beim ersten noch beim zweiten Ausschauhalten eine Menschenseele entdecken kann, bin ich wohl doch der einzige Pilger weit und breit. Dass sich daran ab Córdoba etwas ändert, halte ich für sehr unwahrscheinlich.
Auf diese Etappe habe ich mich schon sehr gefreut, denn auch wenn der Camino hier seine ganze Brutalität zeigt, ist er doch insgesamt irgendwie auch schön mit regelmäßig wechselnden Aussichten auf letztlich doch immer gleich anmutende, abgeerntete Kartoffelfelder. (Diesen Vergleich hatte ich letztes Jahr bemüht und nun kommt er mir wieder in den Sinn.) In der Ferne taucht das Haus mit den großen Hunden auf, und während ich näher komme, höre ich den ersten schon bellen. Ich verhalte mich ruhig, ohne Einsatz der Teleskopstöcke, und hoffe, halbwegs unbemerkt an dem Anwesen vorbei zu kommen. Als ich das Tor passiere, stehen da 4 Bulldoggen und starren mich an. Aber das Tor ist geschlossen und ich entferne mich Schritt für Schritt aus der Gefahrenzone.
Nun wartet das anstrengendste Stück der Strecke, denn es geht circa 12 Kilometer auf einer breiten Schotterpiste langsam aber stetig bergab, wobei man die Stadt die ganze Zeit schon aus der Ferne sieht, ohne das Gefühl zu haben, ihr im geringsten näher zu kommen. Und nun geschieht etwas, was ich schon gar nicht mehr für möglich gehalten hatte: ich begegne Pilgern! In umgekehrter Richtung zwar, aber hey! Zuerst begegnen mir Lea und Julian, die seit 7 Monaten unterwegs sind, in Frankreich gestartet und über Santiago, Porto, Faro und Sevilla nun ihren Weg nach Málaga fortsetzen. Ob es Wasser gibt unterwegs, fragen sie mich, was ich verneinen muss, ihnen aber eine Flasche aus meinem Bestand anbiete, was sie ablehnen, denn sie haben noch genug. Es ist toll, andere Leute zu treffen. Man wird ja schon komisch, so allein, und plötzlich hat man diese netten Menschen vor sich. Zum ersten Mal seit München wünsche ich buen camino und setze meine Wanderung fort, um wenig später Johannes aus Berlin zu treffen, der heute in Córdoba gestartet ist, um seinen Bruder in Málaga zu besuchen. Wir unterhalten uns eine ganze Weile, dann trennen sich unsere Wege wieder und ich kämpfe mich weiter voran auf dieser eintönigen Strecke, die mir diesmal aber weniger lang vorkommt als beim letzten Mal.
In Córdoba ist es nun nur einen Katzensprung vom Camino zu meinem schicken Hotel mit Dachpool. Nach dem Einchecken teste ich den auch sogleich, befinde die Wassertemperatur allerdings als viel zu niedrig und mache stattdessen Sightseeing. Weit komme ich nicht, denn ich muss dringend etwas essen und da es sowieso schon spät geworden ist, mache ich außer essen und trinken heute nichts mehr und verschiebe alle sonstigen Pläne auf morgen.
Ich stehe aus Gewohnheit früh auf und gehe als erstes zur Alcázar de los reyes christianos, da man für die Besichtigung wohl eine Reservierung braucht, die ich aber nicht habe. Ich komme problemlos rein und es ist fast komplett leer. Danach geht es zur Mezquita, kein Córdoba-Besuch ohne Mezquita!, und danach schlendere ich durch die Gassen, lasse mich in netten Bars auf schönen Plazas nieder, trinke Bier, Tinto de verano und chille. Abends treffe ich mich noch mit dem netten Pärchen aus Jaén und es ist wieder super lustig. Um 22 Uhr verlangt mein Körper nach Schlaf und ich kehre zurück ins Hotel.
Diese Etappe hatte ich von vorn herein so geplant, dass ich danach nach Córdoba zurück fahre und hier noch mal übernachte. Ich starte also mit ungewohnt leichtem Gepäck und mache mich auf den Weg raus aus der Stadt und anschließend bergauf nach Cerro Muriano. Veranschlagt ist diese Etappe mit 7,5 Stunden, was mir für die paar Kilometer sehr übertrieben erscheint. Ich schaffe sie in etwas mehr als der Hälfte der Zeit. An Begegnungen fehlt es heute nicht, denn es sind eine Reihe Mountainbiker auf dieser Strecke, die einem alpinen Bergpass gleicht, unterwegs. Ich empfinde große Freude, nun schon weiter gekommen zu sein als im letzten Jahr, als meine Etappe nach Córdoba gleichzeitig die letzte meines Caminos werden sollte.
Je höher ich hinauf steige, desto wolkiger wird es. Für das Wochenende ist viel und starker Regen angekündigt, weshalb ich meinen Plan angepasst habe: die für Samstag geplante Etappe von Cerro Muriano nach Villaharta (ca. 21 km immer in der Nähe der Straße) lasse ich ausfallen und mache einen weiteren faulen Regentag in Córdoba. Mein Hotel habe ich um eine Nacht verlängert. Nachdem aufgrund des Wetters scheinbar viele Stornierungen reinkamen, sind die Preise gepurzelt und statt der exorbitanten 248 Euro, die man mir noch am Mittwoch abgeknöpft hätte, bleibe ich nun für weniger als die Hälfte.
In Cerro Muriano passiere ich direkt die Bushaltestelle, an der schon einige Leute stehen. In einer Minute kommt der Bus, sagt man mir. Welch ein Glück, denn der nächste kommt erst in 91 Minuten! Ich nehme den Bus, und frage mich, ob ich die Rückfahrt nicht zu überstürzt angetreten habe. Aber nun ist es ohnehin zu spät. Ich passiere die Strecke, die ich mich vorhin noch zu Fuß hoch gearbeitet habe, und fahre zur Busstation. Dort angekommen muss ich feststellen, dass die Information geschlossen hat. Öffnungszeiten Montag - Freitag, 9-13 Uhr. Touristen-unfreundlicher geht es kaum. Ich frage den Sicherheitsdienst, ob er eine Ahnung hat, wie ich am Sonntag nach Villaharta komme. Er kennt zumindest die richtige Linie und die hat einen geöffneten Schalter (noch so eine Touristen-unfreundliche Besonderheiten des spanischen Transportsystems). Der früheste Bus am Sonntag geht um 13 Uhr. Das ist mir viel zu spät, denn für meine über 35 km bei dann schon vorherrschender Winterzeit sollte ich allerspätestens um 10 Uhr dort sein. Mit dem Taxi fahre ich zum Hotel zurück und mache mit dem Fahrer gleich aus, dass er mich am Sonntag um 8:45 Uhr abholen und nach Villaharta bringen soll. Wäre das zumindest geklärt.
Abend esse ich zum ersten Mal in meinen Leben halal. Danach trinke ich noch ein Bier auf einer Plaza, irgendwie schmeckt der Alkohol heute aber nicht, außerdem bin ich müde. Also gehe ich zurück in mein Hotel und schlafe wieder früh ein.
Pünktlich um 8:40 Uhr kommt Antonio mit seinem netten Taxi (ein Kastenwagen, sieht aus wie ein großes Spielzeugauto) angefahren und holt mich ab. Es geht hoch nach Cerro Muriano, das ich ja schon kenne, und dann weiter durch eine nun völlig veränderte Landschaft nach Villaharta. Bis Córdoba war die Landschaft geprägt von Olivenbäumen, später abgelöst von Kartoffelackern, immer war es trocken und sah stark nach Wüste und in nicht allzu ferner Zukunft tendentiell nach unbewohnbar aus. Was ich nun durchquere ist vergleichbar mit dem hügeligen galizischen Regenwald. Alles ist grün, es geht auf und ab.
Ich bin froh, dass es nun wieder weiter geht. Der gestrige Tag war zwar nett, besonders weil ich mich noch mal mit Ana Lucia und Heiko getroffen habe, ansonsten hätte es ihn aber nicht gebraucht. Die touristischen Massen in Córdoba waren mir schon Mittwoch Abend zu viel. Ich empfinde den Tag irgendwie als verloren und wäre tatsächlich viel lieber gewandert, wenn auch nicht bei dem Wetter. Aber heute geht es ja nun wieder weiter! Antonio sage ich, er soll mich irgendwo in der Ortsmitte rauslassen, ich brauche nur einen gelben Pfeil, dann kann ich loslaufen. Beim nächsten gelben Pfeil steige ich also aus und lande ziemlich genau an der Heiligen Plaza. Antonio erinnert mich übrigens sehr an meinen schwulen „Kollegen“-Freund Roberto, mit dem ich mich regelmäßig zum Mittagessen verabrede, wenn ich im Büro bin, und ist mir allein deshalb schon sympathisch. Ich hoffe, dass ihm die Fahrt mit mir heute einen ansonsten freien Sonntag ermöglicht.
Die Etappe heute wird vermutlich die längste dieses Caminos, über 36 km lang. Ich wollte sie unbedingt laufen, auch wenn für heute noch Regen angesagt ist, denn mein Büchlein beschreibt sie als landschaftlich äußerst reizvoll. Ich nehme es vorweg: ich empfand einen Großteil der Etappe als unangenehm, irgendwie gruselig und glaube, dass die Energie auf dieser Strecke keine sonderlich gute war.
Bereits zu Beginn meiner Wanderung haben mich immer wieder 4x4 und andere Geländewagen überholt. Drin saßen, bereit zur Jagd, bewaffnete Männer, grimmig dreinschauend und keine Hand hebend, wenn sie mich zum wiederholten Male überholten. Ein Film kommt mir in den Sinn, bei dem weiße Männer einen Schwarzen auf eine entlegene Hütte einladen, um ihn wenig später gemeinsam zu jagen. Diese hier jagen tatsächlich, ich höre regelmäßig ihre Schüsse und auch die zur Jagd mitgenommenen, nun frei laufenden Hunde kreuzen später noch meinen Weg.
Dieser führt mich nun hinein in die Pampa. Würde Gollum mich führen, ich wäre mir sicher, er brächte mich direkt zu Kankra. Später werde ich übrigens auch noch an verlassenen Minen vorbei und durch verbrannte Wälder hindurch laufen. Die Herr-der-Ringe-Assoziationen gehen mir heute nicht aus.
Eine große Villa auf einem Hügel taucht in der Ferne auf und wird für die nächsten 2 Stunden immer wieder in mein Sichtfeld treten. Dieses riesige, von der Ferne unfertig wirkende Haus erinnert mich an einen anderen Horrorfilm, ich weiß nur noch nicht welchen. Das wirklich riesige Grundstück ist lückenlos umzäunt. Am Zaun weisen Schilder drauf hin, dass es aus der Luft mit Drohnen bewacht wird. Ja du liebe Güte! Und das alles für einen für eine Finca viel zu großen Rohbau? Erst als ich über die nächste Hügelkette verschwinde, bekomme ich langsam das Gefühl, dass sich die Energie verbessert. Das Haus, auf dem Hügel wie ein Adler bereit zum Angriff lauernd, aus riesigen toten Augen seine Beute fixierend, sehe ich nun hoffentlich nicht wieder.
Ja ja, es ist eine seltsame Tour heute, zu der die gigantische Kröte, die mitten auf dem Weg saß und sich nicht bewegte, das Ihrige beigetragen hat. Immerhin hat es kaum geregnet. Ich habe den Rucksack extra so gepackt, dass ich schnell an die wichtigen Utensilien heran komme. Das war nicht nötig. Außer ein bisschen Niesel blieb es trocken und zeitweise kam sogar die Sonne raus.
Nun sitze ich hier in meiner Pension, warte darauf, dass um 9 endlich die Köchin kommt und mir meinen Salat zubereitet. Zum Mittagessen hat es zeitlich heute nicht gereicht, daher muss ich nun darben. Aber ich will mich nicht beklagen, habe ich doch in den letzten Tagen festgestellt, dass mir die typisch spanischen Bars mit ihrer lauten Klientel lieber sind als die schicken Touri-Dinger in Córdoba. Ich bin wieder auf dem Camino, mit allem was dazu gehört.
Getroffene Pilger: einen, allerdings wieder in umgekehrter Richtung, außerdem ein Radpilger
Obwohl ich heute keinen Stress habe, komme ich irgendwie nicht aus dem Quark. Um halb zehn bin ich endlich fertig mit dem Frühstück und setze mich in Bewegung für die recht kurze Etappe des heutigen Tages. Die Strecke führt gemächlich über die Felder, links und rechts begrenzt von privaten Weideflächen, diese wiederum regelmäßig bewacht von unentspannten Hunden. Im Nachbarort kommt mir ein Radpilger entgegen, Paco aus Murcia, der seit drei Wochen durch Spanien radelt, erst nach Pamplona, dann Santiago und nun über Mérida und Granada zurück. Torsten wie Tostada sagt er zu mir und lacht. Er hat noch ganze zwei weitere Pilger auf diesem Weg getroffen, einer davon auf dem Rad. Die Wahrscheinlichkeit, doch noch einem Pilger in meiner Richtung zu begegnen, schätze ich nun gleich null ein.
Ich schlendere durch das Dorf, kaufe zwei Bananen im trotz Feiertag geöffnetem Supermarkt, und als ich den Ort verlasse, meldet sich Bernardo. Ich stelle den Rucksack ab und wir telefonieren ein Weilchen. Kaum wieder unterwegs erhalte ich erneut einen Anruf, diesmal ist es meine Wirtin des heutigen Tages. Es ist eben jene Madrileña, die bereits im Blog von Teil 1 Erwähnung findet. Weil mit meiner Kreditkarte angeblich irgendwas nicht funktioniert haben soll, haben wir die Zahlung über Paypal vorgenommen und weil sie das zum ersten Mal gemacht haben, müssen sie nun wohl drei Wochen auf das Geld warten, es sei denn, ich bestätige irgendwo irgendwas, was mir ihr Mann gleich erklärt. Ich telefoniere also auch mit ihm und verspreche, später mal zu schauen, was ich machen kann. Helfen konnte ich ihr am Ende trotzdem nicht.
Bei so viel Trödelei verfliegt die Zeit. Es ist wie in der Arbeit: je weniger man zu tun hat, desto weniger schafft man. Bis 14 Uhr anzukommen, kann ich mir in die Haare schmieren, tatsächlich wird es halb vier werden, bis ich in Hinojosa ankomme und mich auch gleich an der ersten Bar niederlasse und Salat und Pizza bestelle. Es wimmelt hier von Fliegen. Immer nachmittags kommen die raus. Vermutlich bin ich aufgrund meiner geruchlichen Veränderungen da besonders attraktiv für sie. Nach dem Essen ist mir kalt und ich bin müde, also suche ich meine Bleibe auf. Die kann sich allerdings wirklich sehen lassen: ein Landhaus mit tollem Innenhof, alles sehr geschmackvoll eingerichtet. Ich bin begeistert und haue mich erstmal aufs Ohr. Gut möglich, dass ich mein Zimmer heute nicht mehr verlasse.
Bevor ich Hinojosa den Rücken zukehre, besichtige ich noch die Kirche, die gerade öffnet. Sie ist auch bekannt als catedral de la sierra, die Kathedrale des Gebirges, sagt mir der Bruder/Vater (ich kenne mich mit den korrekten kirchlichen Bezeichnungen nie so wirklich aus). Die Kirche ist in der Tat sehr sehenswert und ich hätte was verpasst, wenn ich auch heute vor verschlossenen Türen gestanden hätte. Auf dem Weg raus aus dem Ort mache ich noch Stopp bei einer Bar (der Supermarkt hat noch geschlossen) und nehme mir zwei Riesen-Schokocroissants als Wegzehrung mit. Bananen wären mir zwar lieber, aber die süßen Teilchen sehen sehr verlockend aus. Nun bin ich startklar für die 34 km ohne Möglichkeit der Einkehr, außer der inneren.
Die Landschaft hat sich schon sehr geändert, habe ich das schon erwähnt? Die Berge hinter Córdoba habe ich längst hinter mir gelassen. Es geht nun leicht hügelig durch Oliven- (wieder) oder Eichenplantagen. Ab und zu bellt ein Hund in der Umgebung oder ein Auto fährt an mir vorbei. Immer wieder passiere ich große Schaffarmen, die Tiere glotzen mich neugierig an, ich rufe ihnen zu „Mäh, ihr Schafe!“ und schon kommen von irgendwo hinten zwei große, unentspannte Tölen angerauscht und beenden die Zwiesprache.
Der Weg ist vom ganzen Regen noch gut aufgeweicht. Zwischendurch pappt der Schlamm derart an meinen Sohlen, dass ich zwei Zentimeter größer und die Schuhe drei Kilo schwerer werden. Ich rutsche immer wieder aus, kann mich aber jedes Mal auch dank meiner Stöcker wieder fangen, bis ich mich eben nicht mehr fangen kann und der Länge nach im Matsch liege. Tja, was hilft es, dann steht heute Abend wohl eine größere Wäsche an. Einmal aus dem Tritt gekommen beschließe ich, dass die Zeit reif ist für ein Croissant. Dann noch eins. Dann ist mir schlecht und ich gehe weiter. Mein Körper ist einfach das ungesunde Essen nicht mehr gewöhnt.
Es geht über eine stillgelegte Bahnstrecke und weiter zum über die Ufer getretenen Sambesi (Rio Zújar), den es zu überqueren gilt. Es geht nun doch schon mehr rauf und runter als noch am Vormittag, und ich komme neuen Bergen immer näher, an deren Hängen ich in der Ferne schon mein Ziel Monterrubio entdecken kann. Vorher sind aber noch, als krönender Abschluss, neun km auf einer Landstraße zurück zu legen, während derer ich die Grenze von Andalusien in die Extremadura passiere.
Ich bin ja mal gespannt auf meine Bleibe. Auf meine Reservierungsanfrage über die Website habe ich keine Antwort erhalten. Also habe ich nochmal hingeschrieben und wieder keine Antwort erhalten. Also habe ich am Samstag angerufen. Der Besitzer meinte, ab 16 Uhr sei er unterwegs. Was heißt das, dass das Hotel geschlossen bleibt? Nein, er reserviert mir ein Zimmer, ich soll anrufen, wenn ich da bin, dann sagt er mir, wo er den Schlüssel versteckt hat. Mit gutem Glauben daran, dass schon alles gut wird, rufe ich gegen 17 Uhr an, und tatsächlich finde ich meinen Schlüssel im Inneren des nicht verschlossenen Hotels auf Anhieb. Im Zimmer angekommen lasse ich mir sogleich ein Bad ein, und als ich keine Lust mehr habe, entsteige ich der Wanne und werfe meine gesamten schlammigen Klamotten ins Wasser. Heute ist Großwaschtag. Im einzigen Restaurant des Ortes esse ich noch einen Salat und lege mich danach schlafen.
So schwierig, wie sich gestern das Abendessen dargestellt hat, erweist sich auch das Frühstück. Von einem minikleinen Churros-Laden an der Ecke, in den nur eine Person gleichzeitig reinpasst, mal abgesehen, finde ich nichts, und esse also anstatt der sonst üblichen Tostadas mit Tomaten heute Churros. Drei Bananen im Gepäck mache ich mich gegen 9:40 Uhr los auf die ziemlich kurze Etappe. Es ist kalt geworden. Die Temperaturen sind heute maximal einstellig und es geht ein ziemlich frischer Wind, so dass ich erstmals mit Fleece-Jacke und Schal wandere. Die Strecke geht heute durch Olivenplantagen zwischen den beiden Bergketten entlang. Nach gut 2,5 Stunden Weg offenbart sich plötzlich vor mir eine Aussicht, wie ich sie nicht vermutet hätte. Ich bin sicher, man kann mindestens 50, vielleicht auch 80 oder noch mehr Kilometer voraus schauen. Bestimmt liegt da vorne irgendwo schon Mérida. Mit diesem Panorama habe ich überhaupt nicht gerechnet, ich war mir nicht mal darüber im Klaren, auf einer Hochebene entlang zu wandern.
In Castuera komme ich um 14 Uhr an, beziehe mein Zimmer, dusche, esse, mache Siesta, und starte knapp drei Stunden später meine Tour durch den Ort. Das historische Zentrum lässt nicht viel Historisches erkennen. Das Museo de turrón, auf das ich mich schon gefreut hatte, ist geschlossen, ebenso die Touri-Info. Bis jetzt ist Castuera eine Enttäuschung. Ich schlendere in die Einkaufstraße, rufe währenddessen Oma an, gehe in die Kirche, gehe spontan zum Friseur um mir die grauen Schläfen nachschneiden zu lassen, kaufe Bananen für morgen und Zahnseide für heute Abend und laufe langsam zurück ins Hotel, dessen Bar geschlossen ist. Erst ab 21 Uhr gibt es noch Abendessen für Hotelgäste. Das ist mir zu spät. Ich esse noch eine Banane und ein bisschen aus Córdoba mitgebrachtes Nougat und lege mich ins Bett. Morgen wird ein langer Tag, egal an welcher Stelle ich meinen Weg beende.
Heute ist der Tag meiner Mörderetappe. Ob ich sie bis zum Schluss schaffe bzw. es überhaupt will, weiß ich in der Früh noch nicht. Ich kenne aber die Strecke und die Stationen: die ersten circa 23 km geht es querfeldein bis nach Campanario. Dort ist es langweilig und ich mache nur eine kleine Kaffeepause und gehe gleich weiter, 12 km nach Magacela, meinem Minimalziel. Dort hoch zu kommen erfordert einiges an Willensstärke, denn es geht den Berg steil hinauf. Zwar entschädigt die Aussicht für die Strapazen, eine geöffnete Bar wäre allerdings auch schön gewesen, zumal ich hier oben Mittag essen und mir danach ggfs. ein Taxi rufen wollte. Aus beidem wird nun nix, und so spare ich mir die letzten Höhenmeter bis ganz hinauf zum Castillo (das mache ich dann beim nächsten Mal) und gehe weiter, 8 km nach La Haba. Hier finde ich nach längerer Suche wenigstens eine geöffnete Bar, in der ich ein großes Bier trinke, um anschließend angetüddelt und die vollständige Version von Evita schmetternd die letzten 8 km zu meinem Hotel in Angriff zu nehmen. Insgesamt werden es am Ende des Tages 51 km sein, die ich durchgehalten habe. Bei meiner Ankunft gegen 19:30 Uhr ist es schon stockdunkel. Den Weg vor mir konnte ich zwar noch ausmachen, wo ich hintrete habe ich allerdings nicht mehr gesehen. Aber ich bin angekommen! Kaputt zwar und wirklich froh, da zu sein, aber nicht zerstört. Es gab schon deutlich kürzere Etappen, die mir mehr zu schaffen gemacht haben.
Ich habe übrigens während der letzten zwei Tage La Serena durchquert, eine ausgedehnte Ebene bestehend aus Weideflächen und Feuchtgebieten, mit einigen Gebirgen im Süden und großen Stauseen im Norden, insgesamt 1500 km Süßwasserküste, wie ich dem Faltblatt entnehme, das ich gestern an der geschlossenen Touri-Info in Castuera mitgenommen habe. Es ist dies eben jene Landschaft, die mich gestern auf meinem Weg von Monterrubio nach Castuera so in Erstaunen versetzt hat. Eine sehr hübsche Gegend, und vermutlich so manchem Spanier nicht bekannt.
Nach meiner Monsteretappe esse ich noch im Restaurant des Hotels zu Abend und lege mich schlafen. Auch wenn ich mir das Zentrum Don Benitos schenke: für heute habe ich mein Tagwerk erfüllt.
Nach der längsten Etappe gestern folgt heute die kürzeste, nicht nur dieses Jakobsweges sondern vermutlich aller Jakobswege die es jemals gab und die noch kommen werden. Nicht mal 8 km zeigt mir die App an, als ich an meinem Hostal ankomme und die Aufzeichnung stoppe. Das ist nun wirklich lachhaft. Aber von vielen Seiten habe ich schon gehört, dass Medellín sehr hübsch sein soll, zuletzt heute morgen vom Rezeptionisten meines Hotels, der mir auf die Frage, ob ich mir das Zentrum von Don Benito anschauen oder mehr Zeit in Medellín verbringen soll, zu Zweitem geraten hat. Also spare ich mir das angeblich laute Zentrum Don Benitos und mache mich auf den Weg. Kaum zehn Minuten unterwegs, taucht vor mir auch schon der markante Berg mit der oben thronenden Burg auf. Na das ist ja wirklich ein Katzensprung! Ich gehe extra langsam, denn vor zwölf in meinem Hostal aufzutauchen, ist ja auch ein bisschen peinlich.
Mein rechter Fuß meldet sich. Was will der denn? Vermutlich war ihm die gestrige Etappe zu anstrengend. Es ist der selbe stechende Schmerz am Knöchel, den ich damals auch vor Leon gespürt habe. Oh oh… Zum Glück bin ich nun gleich da. In meinem Zimmer krame ich erstmal die Ibus raus, die ich mir in Jaén gekauft und bisher überhaupt nicht gebraucht habe. Heute sind sie meine Rettung! Nun bereit für die Erkundung, begebe ich mich an den Aufstieg. Mein erster Stopp bringt mich zum Teatro romano, einem Amphitheater. Ich habe das komplette halbrund für mich allein, denn außer zwei Spaniern, die kurz ein Foto schießen und dann wieder gehen, ist hier niemand. Ich setze mich auf die Stufen und genieße die wärmende Mittagssonne.
Gegen 13 Uhr setze ich meine Tour fort, denn die Burg schließt um zwei über den Mittag. Auch auf der Burg ist außer einem Pärchen, das sich aber bald verabschiedet, niemand. Ich klettere auf die verschiedenen Türme, bleibe minutenlang stehen und schaue in alle Richtungen, erkunde jeden Winkel dieser beeindruckenden Anlage, bis ich kurz vor zwei wieder gehe, und das Kassenmädchen in die Mittagspause entlasse. Wir plaudern noch ein bisschen und sie erzählt mir, dass die Anlage kaum bekannt ist und das man wirklich bemüht ist, mehr Touristen anzuziehen. Sogar Konzerte finden im Sommer im Teatro romano statt. Ja nicht schlecht! Ich drehe noch eine Runde durch den Ort, vorbei an der Statue von Hernán Cortéz, dem Entdecker Mexikos und Sohn der Stadt, und gehe in meine Pension um etwas zu essen und eine kleine Siesta einzulegen.
Gegen 17 Uhr begebe ich mich abermals an den Aufstieg. Ich setze mich auf eine Mauer auf halber Höhe und telefoniere erst mit Bernardo und dann mit Oma. Es ist wirklich ganz bezaubernd hier. Und auch der Ort hat eine ganz wundervolle Atmosphäre. Das stelle nicht nur ich fest, denn drei ältere Spanier nähern sich und fragen, ob man hier übernachten kann. Ich empfehle ihnen meine Pension. Später treffe ich sie eben dort an. Medellín hat es auch ihnen angetan.
Nach 2 Bier in der lauten Bar meiner Pension lege ich mich ins Bett, von wo aus ich direkten Blick auf die Burg habe. Pläne schmiedend, wie ich es am besten anstelle, Bernardo davon zu überzeugen hierher zu ziehen, schlafe ich ein.
Heute ist ein recht ereignisloser Wandertag. Es geht dem Ende des Caminos entgegen, da wird man immer ein bisschen melancholisch. Vor einer Woche war Regentag in Córdoba, vor zwei Wochen war Tag zwei des Caminos mit Ankunft in meinem geliebten Alcaudete. Irgendwie kommt es mir so vor, als läge das alles schon viel weiter zurück. Gedanklich teile ich den Weg unweigerlich auf in zwei Hälften: von Jaén nach Córdoba war mir die Landschaft schon hinlänglich bekannt, ich wanderte bei hochsommerlichen Temperaturen durch endlose Olivenplantagen. Dann kam der rückblickend betrachtet zu lange Zwischenstopp in Córdoba mit gleich zwei wanderfreien Tagen, den dem Regen geschuldeten hätte es wahrlich nicht gebraucht. Danach begann Teil zwei des Caminos, eigentlich ab Villaharta, oder wie es die Spanier hinausbellen „Billarta“. Strecke und Landschaft waren mir komplett unbekannt, es war mindestens zehn grad kühler als wenige Tage zuvor. Es ging über Berge, durch Eichenplantagen, dann kam die Serena, die mich nachhaltig begeistert hat. Tja, und nun bin ich hier, fast am Ende angekommen. Die Gedanken sind alle durchdacht. Auch habe ich es mir gestattet, an die Arbeit zu denken, wann immer sie meinen Geist durchstreifte. Nur Pilger habe ich keine getroffen, außer die vier in umgekehrter Richtung. Ein sehr einsamer Weg, und für mich einer der schönsten bisher.
Mein Fuß muss zwischendurch mal mit Ibu-Nachschub ruhig gestellt werden, dann geht es ohne Komplikationen die restlichen Kilometer weiter bis nach San Pedro. Laut Büchlein sind die letzten zehn km des Tages besonders schlimm, weil sie auf einer kleinen Straße neben der Autobahn entlang führen. Das stimmt zwar, aber da die Straße ansonsten so gut wie gar nicht befahren ist, und es insgesamt recht grün links und rechts ist, empfinde ich das Stück nicht als sonderlich unangenehm. Da waren heute die zwei Kilometer direkt am Zubringer viel schlimmer und auch gefährlicher. Ich habe mir schon überlegt, welcher wohl der effektivste Hechtsprung über die Leitplanke ist. Selbst die 9 km vor Monterrubio waren unangenehmer als das heute.
Mein Hostal du jour ist direkt an eben jener Autobahn, was den Vorteil durchgehend warmer Küche aber den Nachteil wenig bis gar nicht motivierten Personals und gleich wenig Atmosphäre hat. Außerdem sind die Gäste tendenziell laute Brummi-Fahrer, wovon ich mich schon überzeugen konnte. Nach meinem Essen lege ich mich in mein Bett und verspüre auch zu späterer Stunde keine Lust, noch auf ein Bier in die Wartesaal-gleiche Gaststube zu gehen. Stattdessen höre ich mir Montserrat Caballé als Aida an. Verdi kann sie wirklich richtig gut!
Finale! Heute beende ich meinen Camino. Und diesmal schaffe ich es tatsächlich bis nach Mérida, wer hätte das gedacht. Es geht zunächst weiter wie bisher, direkt an der Autobahn entlang, nicht ideal, aber auch nicht schlimm. Dann geht es noch mal in eine ausgedehnte Olivenplantage, grad so, als wollte der Weg den Kreis zum Beginn meiner Reise schließen. Voraus sehe ich schon Mérida, auf das ich mich in der Tat schon sehr freue. Ob ich wohl emotional werde bei meiner Ankunft? Nein, werde ich nicht. Statt dessen bin ich schon beim Betreten der Stadt beeindruckt vom ersten Aquädukt zur linken und der römischen Arena zur rechten. Ich suche mir meinen Weg zum Hotel und finde es am Ende der Einkaufsstraße, direkt an der Plaza de España. Dank eines gebuchten Upgrades wird mir eines der besten Zimmer zugewiesen (ganz sicher!), denn es verfügt über einen Balkon zur Plaza. Dem Fluchtplan entnehme ich, dass das Zimmer nebenan über die beiden anderen Balkone verfügt, und das war es. Das ganze Gebäude ist sehr historisch, die originale Bausubstanz kommt auch innerhalb des bestens renovierten Zimmers immer wieder zur Geltung. Ein schöne Unterkunft habe ich mir da ausgesucht!
Bevor ich mit dem Rundgang beginne, gönne ich mir zwei große Radler im Biergarten des Hotels. Dann geht es los: Alcazaba, Amphitheater, Teatro Romano, Tempel der Diana, Haus des Amphitheaters, Haus des Mitro. Die Liste der Sehenswürdigkeiten in Mérida könnte kaum länger sein, an einem Tag nicht zu schaffen. Mit meinem Kombi-Ticket für 16 Euro komme ich überall rein, auch morgen noch. Um halb sieben macht alles zu, also gehe ich was trinken, esse ganz wunderbar in einem Restaurant mit üppiger veganer Speisekarte, und gehe dann ins Hotel. Morgen habe ich den ganzen Tag Zeit, mir den Rest anzuschauen.
Der erste Weg nach dem Frühstück führt mich über die Puente romano zum Busbahnhof, denn ich muss ja irgendwie zurück nach Madrid. Züge gehen zwar auch, aber nur um 8 (wie soll ich denn da frühstücken?) und um 15 Uhr (was soll ich denn so lange machen?). Bei den Bussen schaut es nicht besser aus: es gibt genau eine Verbindung nach Madrid, diese geht allerdings um neun in der Früh, was mit zeitlich entgegen kommt. Ich kaufe direkt ein Ticket, dann habe ich das vom Tisch und kann mich nun ungehemmt meinem Dasein als Tourist hingeben.
Am Fluss entlang wandere ich bis zum Stadtpark, der mich über eine weitere römische Brücke zum acueducto de los milagros bringt, und weiter zum acueducto de San Lazaro, den ich gestern schon passiert habe. Heute nehme ich mir auch die Zeit, mir den circo romano anzuschauen. Zuletzt geht es noch in die Krypta und die Basilika von Santa Eulalia, dann habe ich glaub ich alles gesehen. Der Tag ist nun auch schon wieder halb rum, also setze ich mich auf die Plaza de España, esse touristisch überteuert aber nicht unlecker und trinke ein paar Radler. Als die Sonne hinter den Häusern verschwindet und es kälter wird, genieße ich noch ein bisschen die Annehmlichkeiten meines Zimmer inklusive der riesigen Badewanne und lasse den Tag später bei einem Glas Roséwein an der Hotelbar ausklingen.
Ich sitze im Bus nach Madrid. Zum Abschluss gönne ich mir noch eine Nacht im RIU Hotel an der Plaza de España, direkt im Herzen der Stadt. Das Hotel ist in einem beeindruckendem Gebäude untergebracht, welches 2014, als ich quasi zum ersten Mal nach Madrid gereist bin, noch dem Verfall preisgegeben war. Ein über 30 Stockwerke hoher Prachtbau, der seiner Umgebung nicht nur seinen Stempel, sondern quasi seinen Willen aufdrückt. Die Übernachtung kostet mich 200 Euro, aber ich finde, ich habe es mir verdient.
Auf dem Weg nach Madrid komme ich an verschiedenen Stationen vorbei, die direkt Lust machen, die Extremadura erneut zu bereisen, zum Beispiel Trujillo, was schon aus der Ferne sehr malerisch erscheint. Der Camino mozárabe war der bisher einsamste Jakobsweg. Außer den Pilgern vor Córdoba und dem Radpilger vor Hinojosa ist mir niemand begegnet. Ich habe es geliebt. Ob es noch einsamer geht? Ich spiele bereits seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, als nächstes den Camino de Levante in Angriff zu nehmen, von Valencia bis Toledo. Vermutlich begegnet mir dort gar niemand mehr.
Zuletzt noch ein paar Zahlen: zurückgelegte Kilometer: 383, verbrannte Kalorien: 27.600. Fertig. Mein Camino ist beendet, morgen geht es zurück nach München. Ich verabschiede mich von Camino fünf (oder sechs?) und wünsche eine gute Zeit. Bis zum nächsten Mal.
Hasta la próxima vez, mi querida España, mi querida vida de peregrino…
Klaus (Montag, 17 Februar 2025 13:41)
Super spannend zu lesen. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht aber du hast das so sehr schoen ausgedrückt und beschrieben. Danke
Eine kleine Frage. Thema Hunde. Wie bist du damit umgegangen?
Cornelia Brachmann (Sonntag, 09 Februar 2025 15:39)
Lieber Torsten
Danke für diesen wunderschönen Blog .
Ich war voll dabei .
Ich werde im Mai 2026 diesen Weg München/Lindau genießen.
Ich freue mich schon riesig darauf .
Vorher gibt es noch einen 50km Marsch .
Ich wünsche dir einen wundervolle Pilgerzeit .
Herzliche Grüße aus Berlin.
Conny
Fermate (Freitag, 18 Oktober 2024 14:12)
¡Enhorabuena! Offenbar etwas durchgeweicht aber angekommen. Viel Freude an der grandiosen Stadt Cuenca!
Fermate (Mittwoch, 16 Oktober 2024 21:04)
Es gibt noch so viel großartig spanische Musik für Regen-Märsche: "Noches en los jardines de España" von de Falla.
"La oración del torero" von Turina.
Von Rodrigo auch "Fantasía para un gentilhombre" oder das "Concierto andaluz".
Wenn es etwas Älteres sein soll: Arriaga, Sinfonie D-Dur.
Granados, Danzas españolas.
Albéniz, "Recuerdos de Viaje", Suite española u.a.
Die Königin (Dienstag, 15 Oktober 2024 22:34)
Lieber Torsten, dieses Mal scheint Dein Camino ein ständiges Auf und Ab zu sein, und das nicht nur geographisch! Es sind einige wunderschöne Ort- und Landschaften dabei, und die nicht so schönen hast Du uns ja erspart.
Als ich Aranjuez gelesen habe, musste ich sofort an das Concierto denken und war etwas überrascht, dass Du es noch nicht kanntest. Ein schönes Stück Musik!!
Genieße die restlichen Tage.
Die Königin (Samstag, 05 Oktober 2024 17:18)
Buen camino mein Lieber,
bisher liest such Dein Blog sehr gut, aber Du bist ja noch keinen Meter auf dem Camino gewandert… wie ich Dich kenne, wirst Du jede Herausforderung meistern. Ganz viel Spaß und schöne Eindrücke, und nicht vergessen zu berichten, wie Dein Ausflug ins Nachtleben von Alicante war
Michael (Sonntag, 26 November 2023 11:48)
Servus und schön das ich über Dich, bzw. über Deinen Blog auf der Suche nach einer Unterkunft in Granada, gestolpert bin. Liest sich toll und einsamer als ich gedacht habe - hoffentlich sind ein paar Pfeile seit Deinem Besuch hinzugekommen, wenn schon niemand zum nach dem Weg fragen da ist. Appropos reicht mein Spanisch über die Bier-Bestellung leider nicht hinaus, daher mag ich es gerne online Unterkünfte zu buchen. Ist booking.com das Maß der Dinge oder kannst Du Alternativen empfehlen? Dein „Büchlein“ ist das gelbe von 2017? Grüße vom Ammersee, Michael
Ronny (Freitag, 22 September 2023 09:49)
Ich liebe deinen Blog und sauge die Informationen auf , für meinen nächsten Caminio …
Jürgen (Sonntag, 06 November 2022 09:40)
Mein lieber Wanderfreund, hast Du Dir inzwischen neue Wanderschuhe gegönnt? Deine sind ja weiß Gott inzwischen mehr als genutzt…
So wie bei mir die Hochsitze, scheinen wohl bei Dir das Burgen erklimmen ein Motto zu sein:-)
Weiterhin ganz viel Spaß!!! �
Jürgen (Sonntag, 30 Oktober 2022 02:48)
Mein lieber Wanderfreund,
Dein Blog liest sich wie immer so gut dass man meint, man läuft mit. Genieße den Weg!
Jürgen (Montag, 09 März 2020 18:13)
It has begun.
Dein Blog liest sich wie immer sehr gut und ist amüsant und interessant. Ich hoffe, Deinem Magen geht’s schon besser.
Die App auf insta, die den Weg beschreibt ist ja genial!! Bitte mehr Infos darüber.
Helmut (Freitag, 06 März 2020 17:10)
Na dann wünsche ich wunderschöne Wandertage!
Busserl darf ich ja nicht wegen Corona.
Jürgen (Freitag, 06 März 2020 09:25)
Buen camino!!! Wenn der Mozárabe noch einsamer ist als die Via de la Plata, wirst Du wahrscheinlich gar niemanden treffen!!! Aber dann kannst Du das wunderschöne Andalusien und die Extremadura noch besser genießen �
Helmut (Dienstag, 18 Juni 2019 20:50)
Lieber Torsten,
liebe Grüße von dem Helmut mit dem der Jürgen in Varna war. Da ich heute Zeit habe und auch a bisserl gewandert bin (am Mosel Camino), dachte ich, nun schau doch mal was der Torsten so schreibt. Und, ich sag nur PRIMA! Sehr schöne Bilder, lustig das Ganze. Ich freu mich auf Karlsruhe, Busserl und bis bald!
Jürgen (Sonntag, 19 Mai 2019 09:10)
Mein lieber Pilgerfreund, was habe ich mich über deine letzten Einträge amüsiert!!! Im Frühstücksraum meines Hotels in Varna sitzend (ich besuche gerade Jochen und Helmut) haben sich die Leute einige Male zu mir umgedreht, weil ich lauthals loslachen musste... so schön und unterhaltsam geschrieben! Und der eine oder andere Ort kam mir bekannt vor. Ein gutes Grfühl, mitreden zu können.
Genieße Deine letzten Tage.
Jürgen (Dienstag, 14 Mai 2019 19:10)
Hi Torsten, Dein Blog liest sich wunderbar und amüsant. Einige Bilder kamen mir sehr bekannt vor... wie es scheint, genießt Du die Zeit alleine auch, vor allem bevor Du Deine Zeit mit jemandem langweiligen verbringst/vergeudest :-)
Weiterhin Buen Camino!
Jürgen (Mittwoch, 31 Oktober 2018 00:07)
Lieber Torsten, danke für diesen wunderbaren Blog, den ich außerordentlich genossen habe! Einige Dinge konnte ich aus eigener Erfahrung nachvollziehen, aber es waren trotzdem viele neue Aspekte dabei. Oft habe ich Dich beneidet, weil ich gerne anstatt einem langweiligen Meeting lieber schnaufend bergauf gewandert wäre...
Ich freue mich auf unser Wiedersehen, verbunden mit einem persönlichen Bericht!!!
Jürgen (Freitag, 19 Oktober 2018 07:58)
Lieber Herr Tostada, Du scheinst ja wirklich der einzige Pilger auf diesem Weg zu sein. Meine Theorie ist, dass das kleine Zicklein dies erkannt und gemeint hat, Dir Gesellschaft leisten zu müssen, damit Du nicht so alleine bist...
Die Bilder sind wunderschön.
Torsten (Sonntag, 14 Oktober 2018 07:48)
hi Jürgen! Danke schön für deine rege Teilnahme hier! Ich nehme an, es gibt mehr als ein Padrón. Villamayors gibt es z.B. auch überall. Mein Padrón war ganz winzig klein, direkt hinter Fonsagrada. Liebe Grüße!
Jürgen (Sonntag, 14 Oktober 2018 00:09)
Deine letzten Etappen hören sich ganz schön heftig an! Aber die Bilder sind traumhaft, und deshalb scheint es sich mehr als gelohnt zu haben. Durch Padrón bin ich auch gelaufen, deshalb verstehe ich Deinen Streckenverlauf nicht ganz...
Jürgen (Mittwoch, 10 Oktober 2018 23:55)
Haha!!!! Ich kann es so nachvollziehen was Du schreibst... die Bilder sind toll, die Landschaft schaut wirklich traumhaft schön aus.
Anke Wagner (Dienstag, 09 Oktober 2018 00:06)
Hallo Torsten, das klingt doch nach einer super ersten Etappe,macht Spaß von Dir zu lesen. Weiterhin viele nette Begegnungen, unvergessliche Erfahrungen und dass sich das nordspanische Wetter von seiner besten Seite zeigt �.
Achja und wenn Du irgendwann den Camino del Norte gehst,melde Dich bitte unbedingt,da kommst Du fast an meiner Haustür vorbei.
Alles Liebe und mucho animo!!
Jürgen (Montag, 08 Oktober 2018 23:49)
Brilliant! Ich liebe es. Es kommt mir irgendwie bekannt vor. Du schreibst toll, ich musste einige Male laut loslachen.
Jürgen K. (Sonntag, 07 Oktober 2018 11:41)
Buen camino Torsten! Ich wünsche Dir wieder viele schöne Eindrücke und tolle Begegnungen. Und freue mich auf Deine Berichte.